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Joe Biden am Mittwoch bei einer Wahlkampfveranstaltung nach der ersten TV-Debatte.
© Roberto Schmidt, AFP

Auftritt eines wirklich alten weißen Mannes: Wie fit ist Joe Biden tatsächlich?

Joe Biden wäre bei Amtsantritt 78 Jahre alt – der älteste US-Präsident der Geschichte. Seine Chancen als das „kleinere Übel“ sind dennoch gut. Eine Analyse.

Auf zwei Fragen suchten Amerikas Wähler in der ersten TV-Debatte eine Antwort: Darf einer wie Donald Trump Präsident bleiben? Und kann einer wie Joe Biden Präsident sein? Dass sich an Trump die Geister scheiden, ist bekannt. Der Amtsinhaber poltert und polarisiert, seine Anhänger halten fest zu ihm, seinen Gegnern gibt er täglich neue Nahrung.

Die Frage nach Joe Biden als Präsident ist schwieriger zu beantworten. Im TV-Duell war er wach und konzentriert, allerdings gelang es Trump ein ums andere Mal, ihn durch Zwischenrufe und Beschimpfungen aus dem Konzept zu bringen. Sicher wirkte Biden nur dann, wenn er offenbar auswendig gelernte Versatzstücke aus Reden vortragen konnte.

Trump verhöhnt ihn seit Monaten als „Sleepy Joe“

Dabei ist der ehemalige Vizepräsident mit mehr als vier Jahrzehnten politischer Erfahrung ein Profi auf der politischen Bühne. In den Vorwahlen der Demokraten setzte er sich gegen eine Reihe eloquenter Rivalen durch. Wäre da nur nicht die Sache mit seinem Alter.

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Biden ist 77, bei Amtsantritt wäre er 78 Jahre alt und damit der älteste US-Präsident der Geschichte. Trump verhöhnt ihn seit Monaten als „Sleepy Joe“ – senil, schläfrig, unflexibel. Vor dem TV-Duell mutmaßte Trump über Aufputschmittel, durch die Biden sich in Form bringen werde. Allerdings wirkte es in der Debatte dann eher, als habe der Amtsinhaber unter Strom gestanden und sei womöglich gedopt gewesen.

Ronald Reagan war 73 Jahre alt, als er 1984 gegen Walter Mondale antrat. Als der republikanische Präsident in der TV-Debatte darauf angesprochen wurde, entgegnete er: "Ich werde, allein um des politischen Vorteils willen, nicht die Jugend und Unerfahrenheit meines Gegners ausnutzen.“ Das saß. Auch Mondale, damals immerhin 56 Jahre alt, musste lachen. Der Punkt ging an Reagan.

Er leidet an Sodbrennen und Heuschnupfen

Biden wird wissen, dass die Spekulationen über seinen Gesundheitszustand anhalten und bei der Wahl ein Faktor sein könnten. Laut Gesundheitsakte, die er aus freien Stücken veröffentlichen ließ, musste bei ihm wegen des Verdachts auf Hautkrebs mehrfach Gewebe entfernt werden, 2003 wurde ihm die Gallenblase herausoperiert, 1988 wurden zwei Aneurysmen, Blutgefäß-Verdickungen, im Gehirn behandelt. Außerdem hat er einen zu hohen Cholesterinspiegel, leidet an Sodbrennen und Heuschnupfen.

Andererseits hält er sich fit, raucht nicht, trinkt nicht, jedenfalls keinen Alkohol, und treibt regelmäßig Sport. Sein Hausarzt bescheinigte ihm eine gute Gesundheit. Biden sei fit und für das Amt des Präsidenten uneingeschränkt geeignet.

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Aber reicht das, um Präsident werden zu sollen? Die wichtigste Eigenschaft des Herausforderers ist offenbar, nicht Trump zu sein. Dieser Charaktergegensatz steht denn auch im Vordergrund von Bidens Kampagne. Hier ein empathischer, anständiger, der Wahrheit und Wissenschaft verpflichteter „guter“ Kandidat - dort der sexistische, rassistische, lügnerische, demokratiegefährdende und wissenschaftsignorante Amtsinhaber. Inhalte und Programme sind in dieser Gegenüberstellung nebensächlich.

Als oberste Tugend gilt die „electability“

Dabei müssten die Demokraten gewarnt sein. Schon einmal hatten sie jemanden ins Rennen geschickt, als dessen oberste Tugend die „electability“ galt, die Wählbarkeit. Das war 2004, als John Kerry gegen George W. Bush antrat. Bush, das war der simpel gestrickte Texaner, der nur durch ein Urteil des Obersten Gerichts ins Weiße Haus gekommen war, zwei Kriege vom Zaun brach, internationale Verträge aufkündigte, Guantanamo und andere schlimme Dinge verantwortete.

Kerry dagegen hatte in Yale studiert, war Vietnam-Veteran, saß seit 1984 ununterbrochen im Senat. Ein Vollblutpolitiker mit tadelloser Vita. Dennoch siegte Bush mit 3,5 Millionen Stimmen Vorsprung, und die Republikaner bauten in beiden Häusern des Kongresses ihre Mehrheit aus.

In einer tief gespaltenen Gesellschaft werden Wahlen nicht in der Mitte gewonnen, sondern durch Mobilisierung. Ein Kandidat muss Leidenschaften entfachen, die Herzen seiner Anhänger müssen für ihn brennen. Trump versteht das meisterhaft. Außerdem kam er auch deshalb ins höchste Amt, weil Hillary Clinton genau diese Mobilisierung misslang.

Die Trump-Präsidentschaft ist eine Extremsituation

Steht Joe Biden in einer Linie mit John Kerry und Hillary Clinton? Als ein Kandidat des kleineren Übels, der nicht zu inspirieren vermag? Bislang deutet wenig darauf hin. Bidens persönliche Noten sind weithin positiv, mit Ausnahme der Wirtschaft liegt er in Umfragen in allen Kompetenzbereichen vorn. Ihm wird zugetraut, die Nation zu einen und auf den richtigen Pfad zurückzuführen.

Außerdem geht es bei der Wahl am 3. November nicht um zwei konkurrierende Politikentwürfe. Biden mag das kleinere Übel sein, aber in einer Extremsituation kann das ausreichen, um genügend Anhänger an die Urnen zu bringen. Die Trump-Präsidentschaft ist wahrscheinlich eine solche Extremsituation.

Schon jetzt können Amerikaner in vielen Bundesstaaten ihre Stimme abgeben, und sie tun es scharenweise. Das ist ein starkes Indiz für eine Wechselstimmung. Wenn Biden die nächsten viereinhalb Wochen durchhält, sind seine Gewinnchancen gut.

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