Späte Abrechnung: Wie die SPD mit der Hartz-Ohrfeige umgeht
Das Duo Walter-Borjans und Esken will mit der Hartz-IV-Abschaffung im Kampf um den SPD-Vorsitz punkten - und Scholz/Geywitz unter Druck setzen.
Es war eine Ohrfeige für konservative Sozialdemokraten – das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Dienstag. Jahrelang hatten Vertreter des rechten SPD-Flügels die strengen Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger als notwendig und fair verteidigt. Und jetzt heißt es aus Karlsruhe: Eine allzu harte Maßregelung – eine Kürzung der Hartz-Bezüge um mehr als 30 Prozent – widerspricht der Menschenwürde. Es ist eine späte Abrechnung mit der Agenda-Politik des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. Die Linken in der Partei freut das „längst überfällige Urteil“.
„Für eine Abschaffung von Sanktionen“
Damit ist zwei Wochen vor Beginn der Stichwahl über den Parteivorsitz die alte Hartz-IV-Debatte in der SPD wieder neu entbrannt. Die zentrale Frage: Soll der der Staat Hartz-IV-Empfängern empfindliche Kürzungen zumuten oder nicht?
Juso-Chef Kevin Kühnert will die Sanktionen ganz abschaffen. Beim Bundesparteitag im Dezember wollen die Jusos einen entsprechenden Antrag stellen. Unterstützung kommt von Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken, die Parteichefs werden wollen. Die beiden halten Sanktionen grundsätzlich „für den falschen Weg“, sagt Esken. „Wir stehen für einen Sozialstaat, der an der Seite der Menschen steht, und sind deshalb für eine Abschaffung von Sanktionen.“
Es ist der Versuch von Esken und Walter-Borjans, ihre Konkurrenten Olaf Scholz und Klara Geywitz vor sich herzutreiben. Als konservative Sozialdemokraten stehen der Bundesfinanzminister und die ehemalige Brandenburger Landtagsabgeordnete für den Grundsatz „Fordern und Fördern“, auf dem die Hartz-Sanktionen aufbauen. Auf Anfrage des Tagesspiegels wollte sich Geywitz zu der Sache nicht äußern.
Das Thema dürfte allerdings so schnell nicht wieder weggehen. Klaus Barthel, Vorsitzender der SPD-internen „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen“ (AfA), sagt: „Ich erwarte von den beiden Duos, die sich um den Parteivorsitz bewerben, dass sie sich in der Sache nun positionieren und die Frage beantworten, wohin sie die SPD in der Sozialpolitik steuern wollen.“ Die glaubwürdige Abkehr von Hartz IV ist eine langjährige Forderung der AfA – und für die Parteilinken eine zentrale Frage für die Zukunft der SPD. Beim Bundesparteitag will Barthel einen Antrag mit dem Titel „Hartz-IV-Logik aufheben“ einbringen.
Seitenhieb auf Scholz
Einen Versuch, das SPD-Trauma „Hartz“ zu überwinden, hat der Parteivorstand bereits im Februar unternommen – mit einem eigenen Sozialstaatspapier, das Forderungen nach einer Kindergrundsicherung oder einer längeren Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I enthielt. Die damalige Parteichefin Andrea Nahles wollte die endlose Hartz-Debatte in der SPD damit ein für alle Mal beenden – was nicht gelang, wie sich nach dem Karlsruher Gerichtsurteil zeigt.
Im Kampf um den SPD-Vorsitz ist Hartz IV nicht das einzige Thema, mit dem das linke Bewerber-Duo aus Walter-Borjans und Esken versucht, das Team Scholz/Geywitz herauszufordern. Im Interview mit dem „Spiegel“ empfahl Walter-Borjans der SPD, bis auf Weiteres auf eine eigene Kanzlerkandidatur zu verzichten – und stattdessen einen Spitzenkandidaten zu nominieren. Es ist ein Seitenhieb auf Scholz, der im Januar sagte, er traue sich eine Kanzlerkandidatur durchaus zu. In der Partei schüttelten damals viele mit dem Kopf, da die SPD in den Umfragen zu dem Zeitpunkt bei rund 15 Prozent lag.
Esken sieht für die Sozialdemokraten insgesamt „ein Potenzial von deutlich über 30 Prozent“. Dafür müsse die SPD aber zuerst wieder inhaltlich an Kontur gewinnen, sagt Esken: „Da müssen wir wieder hin, darum muss es uns jetzt vorrangig gehen. Die K-Frage ist da im Moment ein deutlich nachrangiges Thema.“
Paul Starzmann