Landtagswahl in NRW: Wie die Rheinländer und die Westfalen ticken
Heute wählen die Menschen im Bindestrichland Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Aber wer lebt eigentlich dort zwischen Rhein und Weser in diesem Kunstgebilde der Nachkriegszeit? Zwei ganz und gar subjektive Einblicke.
- Lutz Haverkamp
- Stephan-Andreas Casdorff
Worüber reden wir hier eigentlich? Damit fängt es schon mal an: Das Rheinland ist ein so großes, großartiges, umfassendes Wort, dass es allein schon den Text hier füllen würde, alles dazu aufzuschreiben. Deshalb in aller Kürze: Vom Rheinland kann erst ab 1797 mit der staatlichen Integration des linken Rheinufers ins revolutionäre Frankreich die Rede sein. Jawohl, revolutionär!
So viele Provinzen waren dabei, nicht nur diverse Herzogtümer und Kurfürstentümer wie Mainz und Trier. Daneben gab es in diesem gesamten Bereich diverse Grafschaften, kleinere Enklaven, Herrschaften, Abteien und die beiden großen und alten Reichsstädte Aachen und Köln. Berger, Geldener, Jülicher, Klever, Kölner, Kurkölner … Aber ich merke schon, ich schweife ab. Was typisch für den Rheinländer sein soll, wie ich gehört habe: Die Geschichten werden immer länger, vor allem als gedacht. Sie verstehen?
Wichtig ist, dass das Rheinland alt und ehrwürdig ist, dass den Rheinländer die Römer geprägt haben, die Franzosen, die Preußen. Daher der Begriff des „rheinischen Preußen“, den zum Beispiel der verehrte Ministerpräsident des Bindestrich-Landes Nordrhein-Westfalen Johannes Rau für sich reklamierte. Übrigens auch wegen der Preußen gibt es die „Prinzengarde“ der Stadt Köln im Karneval, genannt die „Mählsäck“, denn die Uniformen sehen so aus. Ach ja, nicht zu vergessen, die Wittelsbacher waren auch im Rheinland unterwegs. Da könnte man Geschichten erzählen…
Vielleicht eine noch: Entgegen landläufiger Meinung wird das Rheinland nicht vom Antagonismus zwischen Kölnern und Düsseldorfern bestimmt. Nein, Düsseldorf, mit Verlaub, ist doch nicht wirklich… Sagen wir mal so, um den Düsseldorfern nicht zu nahe zu treten: Köln ist eine Millionenstadt, ist rheinische Metropole, ist nach Rom die wichtigste Erzdiözese der Welt, wird das „Rom des Nordens“ genannt. Köln war Hansestadt, war sogar schon die „Primadonna der Hanse“, als Hamburg noch davon träumte, einmal so bedeutend zu werden. Köln hat die Gebeine der Heiligen Drei Könige. Hat den Dom. Den Geißbock Hennes VIII. Köln spielt in der Ersten Liga. Düsseldorf ist nur Landeshauptstadt.
Wo Rhein drauf steht, ist irgendwie Rheinländer drin
Der Wiener Kongress von 1815 spielt bis heute hinein ins Rheinland. War das ein Klüngel! Gemütsmäßig lässt sich darauf eine Tradition begründen. Ja, getanzt wird auch. Zum anderen, weil die (staatliche) Ordnung – ein für Rheinländer relatives Wort –, und weil alles Trennende zwischen Links- und Rechtsrheinisch Ortsfremde verwirren muss.
Vielleicht aber fasst man es am besten so: Ob Rheinkreis, Rheinpfalz, Rheinhessen, egal – wo Rhein drauf steht, ist irgendwie ein Rheinländer drin. Zumal der Rhein „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“ ist, wie Ernst Moritz Arndt meinte. Das mal am Rande, weil sich der Rheinländer sich nicht gern an den Rand gedrängt fühlt, und sei es geografisch. Und von wegen! Rheinländer sind Menschen von Welt. Nur ein paar Beispiele: Konrad Adenauer. Karl der Große. Karl Marx (nicht mit dem anderen zu verwechseln). August Bebel. Ludwig van Beethoven. Heinrich Böll. Jupp Derwall. Heidi Klum. Wolfgang Bosbach – den kennt ja wohl jeder, oder?
Leben und leben lassen, dieses Motto belebt den Rheinländer. Wo auch immer er lebt. Im Grunde ist das sehr katholisch, weil der Katholik eher zur Barmherzigkeit neigt, vor allem bei sich, der Protestant hingegen aufgeklärt und streng ist. Der Mensch an sich, meint Martin Luther, ist ja kein guter. Um es vorsichtig zu sagen. Im weitesten Sinn – man könnte auch sagen: weitschweifigsten – gab es darum auch vor Urzeiten Widerstände gegen die Integration in die neue Herrschaft unter den protestantischen Preußen. Und weil der Rheinländer nicht nur Spaß versteht, gab es damals sogar separatistische Gegenbewegungen. Die aber, natürlich, zum Erliegen kamen. Die Rheinische Republik von 1923 kennt doch heute keiner mehr.
Dafür aber diesen Liedtext: „Einmal am Rhein/und dann zu Zwei’n alleine sein/einmal am Rhein,/beim Gläschen Wein bei Mondenschein!/ einmal am Rhein/Du glaubst, die ganze Welt ist Dein/es lacht der Mund zu jeder Stund/das kranke Herz/es wird gesund,/komm ich lade dich ein/ einmal zum Rhein.“ Ganz klar, der Rheinländer trägt das Herz auf der Zunge.
Um die Verwirrung jetzt aber endgültig komplett zu machen: „Das Rheinland in diesem Sinne verteilt sich in der deutschen Nachkriegsordnung als Folge der nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten eingerichteten Besatzungszonen auf Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Durch neue Gebietsaufteilungen wurde das Rheinland in den nordrhein-westfälischen Niederrhein und den rheinland-pfälzischen Mittelrhein aufgeteilt; nur ein kleiner Teil des nördlichen Mittelrheins gehört heute ebenfalls zum Land Nordrhein-Westfalen.
Zu Rheinland-Pfalz gehören der größere Teil der Gebiete am Mittelrhein einschließlich der rechtsrheinischen Gebiete unterhalb der Höhe von Bonn bis zum Rheingau-Taunus-Kreis sowie Rheinhessen und die ehemalige bayrische Rheinpfalz, während Hessen kein linksrheinisches Gebiet mehr hat. Einen Sonderstatus, wie bereits zeitweise nach dem Ersten Weltkrieg, hatte kurzzeitig bis zum 1. Januar 1957 das aktuelle Bundesland Saarland.“ Und da soll ich was über Rheinländer schreiben!
Deshalb lieber noch einmal Johannes Rau über Nordrhein-Westfalen: „Die Stärke für dieses Land liegt in der einmaligen Kombination der Eigenschaften seiner Menschen: der Zuverlässigkeit des Rheinländers, der Leichtfüßigkeit des Westfalen und der Großzügigkeit des Lippers.“
Der Autor, 1959 in Köln geboren, ist (protestantischer) Sohn einer mit Köln versippten Mutter und eines geborenen Hamburgers. Er konnte es nicht lassen und wurde Journalist, wie Großvater und Vater. Nach Lehrjahren in Köln wurde er dann vor mehr als drei Jahrzehnten politischer Redakteur. Das ist er bis heute, nur die Funktionen haben sich geändert. C. ist seit 2004 gemeinsam mit Lorenz Maroldt – noch einem Kölner – Chefredakteur des Tagesspiegels.
Der Westfale ist nicht maulfaul, sondern effizient
Wer jemals Gast auf einem Herbert-Grönemeyer-Konzert war, der könnte glauben, sehr, sehr viele Menschen kommen aus Westfalen. Wenn der Barde, der zwar einen Großteil seiner Kindheit im Revier verbracht hat, aber im niedersächsischen Göttingen geboren wurde, seinen Hit „Bochum“ zum Besten gibt, schallt es ihm zehntausendfach aus den Kehlen seiner Fans entgegen: „Bochum, ich komm’ aus dir. Bochum, ich häng’ an dir.“
Doch die wenigsten, die da lauthals mit Grönemeyer einstimmen, dürften Bochumer und auch kaum Westfalen sein. Solche gefühlsseligen Momente sind den Menschen, die an Ruhr, Ems, Lippe und Sieg leben doch eher unangenehm. Nicht, weil sie Musik nicht mögen würden. Aber die öffentlich vorgetragene Extase ist kein typisch westfälisches Verhaltensmuster. Ganz und gar nicht.
Doch es ist Vorsicht geboten! Nicht alle überlieferten Klischees über den ach so sturen, dickschädeligen, maulfaulen und kontaktscheuen Westfalen entsprechen der Wirklichkeit. Das liegt allein schon daran, dass Westfalen viel größer und und die Landschaft vielfältiger ist als selbst mancher Westfale oftmals glaubt und weiß. Die Menschen zwischen Siegen-Wittgenstein und Sauerland im Süden, im Münsterland und Steinfurt im Norden, im Pott im Westen und in Ostwestfalen mit Bielefeld im Osten (und nehmen wir den dritten NRW-Landesteil Lippe mal dreisterweise mit auf in dieses Westfalen) haben ihre ganz eigene Sicht auf die Welt.
Sie definieren sich über viel kleinere Einheiten. Man ist zwar immer Westfale, zuerst ist man aber Münsterländer, Sauerländer, Paderborner oder kommt aus dem Ruhrpott. Und die Lipper – wie der amtierende Bundespräsident (Detmold) und der letzte männliche Bundeskanzler (Mossenberg) – sind dann noch einmal ein ganz spezieller Fall für sich. „Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“, sagt das Sprichwort. Und das bezieht sich beileibe nicht nur auf die Nahrungsaufnahme.
Er denkt nach, bevor er redet
Zugegeben: Als Plaudertasche fällt der gebürtige Westfale eher selten auf. Er denkt nach, bevor er redet. Diese – zugegeben – positive Deutung der verbalen Zurückgezogenheit hat in der heutigen schnelllebigen Zeit durchaus ihre Vorzüge. Und der Westfale kann kurz und knapp. Der Satz: „Ich habe Sie leider nicht verstanden, könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen“ wird im Plattdeutschen gewöhnlich mit „Hä?“ übersetzt. Das ist keine Maulfaulheit. Das ist Effizienz.
Zwischen den Fachwerkhäusern und Bauernhöfen, den hauptsächlich katholischen aber auch vielen evangelischen Kirchen, den Naturschutzgebieten und mittelalterlichen Städten leben Menschen, die ordentlich zu feiern wissen. Der westfälische Karneval ist bunt, lustig – und gut organisiert. Das gehört sich schließlich so. Der Westfale liebt seinen Verein. Der organisiert für ihn das karnevaleske Treiben im Winter, das Schützenfest im Sommer. Und er kümmert sich um die Bewahrung der plattdeutschen Sprache oder um die ordnungsgemäße Vermehrung von Kaninchen, Tauben oder Rassegeflügel. Den schönsten Deutschen Riesen (eine Kaninchenrasse) gezüchtet oder den Vogel (aus Holz) von der Stange geschossen zu haben, ist immer noch eine Ehre. Für einen selbst. Für den Verein. Der Verein ist Heimat.
Seine Heimat verlässt der Westfale nur ungern. Und er lässt ungern welche von außen hinein. Nicht, dass er Flüchtlingen, Ausländern, Touristen oder deutschen Nicht-Westfalen nicht aufgeschlossen und hilfsbereit gegenüberstünde. Das nicht, der Westfale ist im besten Sinne ein Gutmensch und liebevoller, fürsorglicher Gastgeber. Aber sein Herz zu erobern, seine Freundschaft zu gewinnen – das ist ein hartes Stück Arbeit. Manche sagen, man müsse mit einem Westfalen erst gemeinsam einen Sack Salz gegessen haben, bevor man als Zugezogener irgendwie dann doch dazugehöre. Aber eine so gewonnene Freundschaft hält dann vermutlich ein Leben lang. Ein Paohlbürger, wie es im Münsterland heißt, wird man deswegen aber trotzdem nicht. Niemals.
Durch und durch friedlich ist der Westfale. Jede spontane Aggression ist ihm fremd. Das Spontane liegt ihm nicht. Und Gewalt ist ihm viel zu anstrengend, zu laut, zu schnell. Sie ist ihm schlicht wesensfremd. So wie er seine Glücksgefühle eher innerlich auslebt, ist es auch mit seinem Ärger. Seit Alters her. Schließlich ist es die Friedensstadt Münster im Herzen des so schönen Landstrichs, wo 1648 nach 30-jährigem Morden der große Krieg endlich ein Ende fand. Das ist Verpflichtung für die Zukunft. Noch heute zeugt der Friedensreiter, ein Höhepunkt westfälischer Bierbraukunst, vom Stolz der Münsterländer Gastgeber der Friedenskonferenz gewesen zu sein.
Durst wird durch Bier erst schön
Überhaupt das Bier – das einzige Getränk, das der Westfale neben Weizenkorn überhaupt in größeren Mengen zu sich nimmt. „Durst wird durch Bier erst schön“, sagt so mancher Westfale und kann den ganzen Bohai um Getränke wie Wein oder gar Cocktails nicht verstehen. Seine Küche ist wie er selbst: einfach und deftig. Aber lecker. Probieren Sie doch mal bei Gelegenheit Töttchen. Und fragen Sie den Koch besser nach dem Essen, was alles so drin war. Genau in dem Moment hilft dann ein westfälischer Weizenkorn.
Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mal einen Westfalen außerhalb seiner Heimat treffen, vielleicht in Berlin, gehen Sie bitte fürsorglich mit ihm um. Es wird nicht einfach, der Westfale wird nicht viel reden, schon gar nicht über seine Gefühle oder wie der die geopolitische Weltlage einschätzt. Vermutlich wird er ihnen seine kalte Schulter zeigen und mürrisch vorkommen. Aber bleiben Sie dran. Das mit dem Sack Salz ist nur ein Sprichwort. Versuchen Sie es doch mal mit einem Bier und einem Schnaps. Der Westfale wird es Ihnen danken. Und vielleicht gewinnen Sie einen neuen Freund. Dann sogar fürs ganze Leben.
Der Autor wurde 1969 im münsterländischen Emsdetten geboren. Nach Studium in Münster, Volontariat und ersten Berufsjahren in Bielefeld kam er 2001 nach Berlin. Er feiert regelmäßig Karneval in seiner Geburtsstadt und ist dort Mitglied der Bürger Schützengesellschaft von 1878. Er arbeitet als Leitender Redakteur beim Tagesspiegel.
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