Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen: Wie die FDP doch noch weiterregieren will
Die Liberalen wollen weder Bodo Ramelow noch Björn Höcke zum Ministerpräsidenten wählen. Stattdessen setzen sie auf einen „Plan B“.
Auf einen schmerzlichen Abschied scheint man sich nicht vorzubereiten in der Erfurter Staatskanzlei. Zumindest vermittelt Thomas Philipp Reiter am Telefon diesen Eindruck. Reiter ist Regierungssprecher des geschäftsführenden FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich, dazu leitet er die Kommunikationsabteilung der FDP-Landtagsfraktion und spricht für den Thüringer Landesverband.
Er und die Liberalen in Thüringen tun in diesen Tagen gerne so, als sei nichts geschehen. „Wir machen weiter wie bisher“, sagt Reiter am Dienstag im Gespräch mit dem Tagesspiegel – einen Tag vor der für Mittwoch geplanten Wahl des Linken-Politikers Bodo Ramelow zum neuen Ministerpräsidenten.
FDP erwägt Berufung von Staatssekretären
„Wenn Ramelow nicht gewählt wird“, fährt Reiter fort, „dann bleiben Kemmerich und Thüringen handlungsfähig.“ Man arbeite nun an „Sachfragen“ – von der Digitalisierung bis zur Schulpolitik, wolle den Freistaat nach vorne bringen.
Auch denke man in der Staatskanzlei über die Berufung neuer Staatssekretäre nach. „Es gibt einen Plan B“, erzählt Reiter. Bereits am Donnerstag könne man dann neue Staatssekretäre berufen – und eben: weitermachen.
Das klingt nach normaler Regierungsarbeit. Ist der „Tabubruch“ von Erfurt vielleicht bereits vergessen? Versuchen die Thüringer Liberalen wirklich zum „business as usual“ zurückzukehren?
Findet die Ramelow-Wahl überhaupt statt?
Gerade einmal vier Wochen ist es her, dass sich FDP-Landeschef Thomas Kemmerich mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ – was nicht nur die Liberalen insgesamt in die Krise stürzte, sondern auch die Bundespolitik ordentlich durcheinanderwirbelte. Und FDP-Chef Christian Lindner auf den Plan rief, der Kemmerich zum Rückzug drängte. Und jetzt soll „weitermachen“ angesagt sein?
Inzwischen ist zwar unklar, ob die Wahl des Ministerpräsidenten am Mittwoch im Erfurter Landtag auch wirklich stattfindet – es gibt in der CDU-Fraktion einen Coronavirus-Verdachtsfall, möglicherweise müssen die Abgeordneten unter Quarantäne gestellt werden.
Sollte Ramelow jedoch wie geplant antreten und erneut verlieren, dann bliebe Kemmerich weiter geschäftsführend im Amt. Dann sei Zeit für „Plan B“, sagt Reiter. In der Berliner FDP-Zentrale will man von solchen Szenarien jedoch nichts wissen. Dort setze man auf rasche Neuwahlen in Thüringen, sagt ein Parteisprecher. Das wollen auch SPD, Linke und Grüne – geplant sind die Wahlen für April 2021.
An Ramelows Wahl beteiligen wollen sich die fünf Thüringer FDP-Abgeordneten auf keinen Fall. Sie wollen der geheimen Abstimmung im Plenum am Mittwoch fernbleiben, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, heimlich doch für Ramelow oder auch dessen AfD-Gegenkandidaten Björn Höcke zu stimmen. „Die FDP-Fraktion im Thüringer Landtag hat heute in Erfurt einstimmig beschlossen, bei der morgigen Wahl des Ministerpräsidenten weder Höcke noch Ramelow zu wählen“, teilte Reiter am Dienstag mit. Lindner äußerte in der „Bild“-Zeitung Verständnis für diese Position.
Viel mehr Übereinstimmung dürfte es zwischen Lindner und seinen Thüringer Parteifreunden in diesen Tagen jedoch nicht geben. Freundschaftlich ist das Verhältnis zwischen den Thüringer Landesverband und der Berliner Parteizentrale zur Zeit nicht gerade.
Skepsis in Thüringen gegenüber Lindner
Denn in Erfurt hat man wenig Verständnis für Lindners Umgang mit dem „Fiasko von Thüringen“, wie der FDP-Chef die Kemmerich-Wahl nennt. Nicht allen in der Partei hat gefallen, dass Lindner nur einen Tag nach Kemmerichs Amtsantritt in den Freistaat eilte und den neuen Ministerpräsidenten zum Rückzug aufforderte. Auch in der Erfurter FDP-Fraktion musste Lindner damals erst Überzeugungsarbeit leisten – hatten einige Liberale bis in die Bundesspitze Kemmerich doch gerade noch zu dessen Wahl gratuliert, die Sache zunächst als FDP-Erfolg gewertet.
Bis heute sähen viele FDP-Mitglieder in Thüringen und anderswo Lindners Vorgehen gegen Kemmerich skeptisch, sagt Reiter. „Thomas Kemmerich erhält unfassbar viel Zuspruch von der FDP-Basis, nicht nur aus ostdeutschen Bundesländern. Er steht für eine FDP, wie sie sich viele Mitglieder wünschen“ – eine wirtschaftsliberale und eher konservative ausgerichtete Partei.
Die FDP und der „linke Mainstream“
Eine ähnliche Position vertritt der Historiker Rainer Zitelmann, der seit 25 Jahren FDP-Mitglied ist. Lindners Agieren habe die Liberalen insgesamt in die „Defensive“ gebracht, meint Zitelmann. Der Parteichef habe sich bei seinem Eingriff in die Thüringer Landespolitik vom „linken Mainstream“ treiben lassen.
Dass Zitelmann – einst Maoist, später Hitler-Biograf, Journalist bei der „Welt“ und Unternehmer – hier auftaucht, ist kein Zufall: Schon Mitte der 90er Jahre versuchte der heute 62-Jährige die FDP nach rechts zu drehen – zusammen mit einem kleinen Kreis nationalliberaler Freidemokraten um den ehemaligen Generalbundestaatsanwalt Alexander von Stahl. Sie forderten, die FDP möge sich stärker gegen Feminismus und Multikulturalismus richten. Auch sahen sich Zitelmann und seine Mitstreiter schon damals von einer Art linkem Mainstream bedrängt – Ideen, die sich heute auch in der AfD wiederfinden. Dazu schreibt Zitelmann heute für Medien, bei denen sich das Who-is-Who neurechter Publizisten tummelt.
[Anmerkung der Redaktion: Nach Hinweisen aus unserer Leserschaft haben wir in dem Artikel einige Punkte zur politischen Vita von Rainer Zitelmann ergänzt.]
In einem Artikel, den die Thüringer FDP-Landtagsfraktion in der vergangenen Woche bei Twitter teilte, schreibt Zitelmann: „Viele waren unzufrieden damit, dass sich die FDP in der Woche nach der Wahl mit Entschuldigungen förmlich überschlug.“ Lindner hatte sich vor kurzem im Bundestag „beschämt“ über die Kemmerich-Wahl gezeigt.
Im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in Berlin weist man die Kritik aus Thüringen zurück. Auch in der FDP-Bundestagsfraktion wiegelt man Vorwürfe an Lindner routiniert ab – hinter vorgehaltener Hand gestehen einzelne Abgeordnete jedoch ein, dass in der Thüringen-Frage nicht alle FDP-Mitglieder hinter dem Parteichef stünden.
Vor allem in Ostdeutschland hätten Liberale oft weniger Berührungsängste mit der AfD als etwa mit einem Linken wie Ramelow, heißt es in der Partei. Viele West-Liberale schockiert das. „Da geht uns das Messer in der Tasche auf“, sagt ein Bundestagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen.
„Riss durch die Gesellschaft“
„Der Riss durch die Gesellschaft geht tief“, sagt Noch-Regierungssprecher Reiter dazu. „Auch die FDP-Basis denkt ganz anders als die veröffentlichte Meinung oder die meisten Funktionäre auf Bundesebene oder aus NRW.“
Was den Umgang mit der AfD und auch der Linken angeht, hat die Bundes-FDP mittlerweile eine strenge Linie festgelegt – auch damit das „Fiasko von Thüringen“ keine bleibenden Schäden in der FDP hinterlässt. Zwar ist die Ablehnung gegenüber der Linken bei den Freidemokraten nach wie vor groß. Zuletzt gab es massive Kritik an einer „Strategie-Konferenz“ der Linkspartei, bei der eine Teilnehmerin in Anwesenheit von Parteichef Riexinger über die Erschießung von Reichen schwadronierte.
In der parlamentarischen Praxis könne es in Ausnahmefällen allerdings durchaus eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Linkspartei geben, sagte Lindner Anfang Februar. Das werde im Bundestag auch so gehandhabt. „Keine Kooperation mit der AfD, keine Koalition mit der Linken“, lautet die offizielle Sprachregelung.
In der Thüringer FDP wünscht man sich hingegen mehr Schärfe gegenüber der Linken. Zur AfD praktiziere man „totale Abgrenzung“, versichert Reiter. „Kemmerich war und ist Anti-AfD.“ Zugleich sagt der Sprecher des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Kemmerich: „Wir warnen vor einer zu soften Sicht auf die Gefahr von links.“