Selektive Maßnahmen statt Entkopplung: Wie Deutschland jetzt mit China umgehen muss
Dem deutschen Wohlwollen für Hongkongs prodemokratische Aktivisten müssen nach dem Sicherheitsgesetz klare politische Worte folgen. Ein Kommentar.
Die heroischste Geste, die Deutschland gegenüber China in Sachen Hongkong zuletzt aufbrachte, war ein informelles Treffen von Außenminister Heiko Maas mit dem Aktivisten Joshua Wong. Im vergangenen September ließ er sich am Rande einer Veranstaltung der „Bild“-Zeitung mit der damals 22-jährigen Ikone von „Free Hongkong“ ablichten.
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Die Aufnahme kostete Maas zwar die Einbestellung des deutschen Botschafters in Peking, ersparte ihm aber jedes praktische Bekenntnis zu den nicht ganz unromantischen Zielen der Bewegung. Zuweilen in Vandalismus umschlagende Wut gegen die übermächtige Volksrepublik mischte sich mit ehrgeizigen demokratischen Motiven und wenig aussichtsreichen Träumen von einem Leben in Unabhängigkeit.
Nun aber, da das neue Sicherheitsgesetz der Zentralregierung in Peking auf einen Schlag alle 1997 beim Abschied von der britischen Kolonialmacht vertraglich zugesicherten Freiheiten der Sonderverwaltungszone auszulöschen droht, liegen die politischen Forderungen klar zutage: Pacta sunt servanda. Es gilt sie umso mehr einzuhalten, als Hongkong weit über seine spezifische Problematik hinaus einen Präzedenzfall mit historischer Hebelwirkung bildet.
Die Bundesregierung hält sich zurück
Durch seine Nähe zu Taiwan ist es eine geostrategische Burg und als Finanzsitz für internationale Transaktionen unentbehrlich. Im Zuge der Proteste drohten sich viele Geschäfte schon nach Singapur zu verlagern. Bei Bundeskanzlerin Angela Merkel reichte es bisher nur zu einer matten „Sorge“: Sie wird die bitteren Konsequenzen nicht mehr erleben müssen.
Unterdessen verschwinden aus Bibliotheken und Buchhandlungen die Bücher der Demokratiebewegung. Nathan Law, ein anderer Aktivist, hat das Land verlassen. Die Schulen sind aufgefordert, ihr Lehrmaterial zu überprüfen, und die Bürger löschen panisch chinakritische Posts in den sozialen Medien.
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Immerhin haben Facebook, Google, Whatsapp und Telegram versprochen, Anfragen der Hongkonger Behörden zu Nutzern nicht zu beantworten. Besonders vielsagend der Rückzug der chinesischen Plattform Tiktok: Sie will sich das international explodierende Geschäft nicht durch sichtbare Zensurmaßnahmen verderben lassen.
Decoupling ist keine Lösung
Was ist zu tun? Das vollständige Decoupling von China, ein Schlagwort der US-Republikaner, das sich hierzulande Springer-Chef Mathias Döpfner zu eigen machte, ist angesichts der vielfältigen Verflechtungen Europas mit dem Reich der Mitte weder möglich noch sinnvoll.
Erstens würde es China von allem Druck entlasten – und den immer noch vorhandenen mäßigenden Tönen keinen Raum mehr geben. Zweitens führt es nur noch tiefer in einen Überlegenheitsdiskurs, der ignoriert, dass ein großer Teil der Chinesen bei aller Skepsis gegenüber Xi Jinpings heiß drehender Propagandamaschine mit System und Regierung durchaus zufrieden ist.
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Gefragt ist eine Politik der selektiven Maßnahmen auf allen Ebenen. Deutschland könnte sich einer Klage am Internationalen Gerichtshof anschließen. Es könnte wie Kanada das Auslieferungsabkommen mit Hongkong aussetzen. Oder es könnte dafür sorgen – ohne chinesische Studierende wie Donald Trump völlig von den Universitäten auszuschließen–, dass in deutschen Seminaren keine patriotischen Aufpasser sitzen, die ihre Kommilitonen überwachen. Die Grundvoraussetzung aber ist die Bereitschaft, über Chinas Vergehen überhaupt offen zu sprechen. Daran mangelt es bisher.
Gregor Dotzauer