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Richtung Hoffnung. Zu Tausenden versuchen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Eritrea, sich nach Europa durchzuschlagen.
© Aris Messinis/ AFP

Bleiben statt gehen: Wie Deutschland Fluchtursachen bekämpft

Die Bundesregierung hilft, damit Menschen in Krisenländern nicht ihre Heimat verlassen müssen. Im internationalen Vergleich tut sie viel. Doch die Erfolge sind bescheiden.

Die Regel, wonach das Wichtigste immer am Anfang stehen soll, gilt auch in Krisenzeiten. „Bekämpfung der Fluchtursachen und Stabilisierung der Nachbarländer“ ist der erste Punkt des Flüchtlingspakets überschrieben, das die Spitzenpolitiker von Union und SPD vergangene Woche im Kanzleramt beschlossen haben.

Was einleuchtend klingt – lieber helfen, dass niemand aus Not seine Heimat verlassen muss, als später Geflohene aufzunehmen –, ist in der Realität eine mühsame und komplizierte politische Aufgabe, die selten schnelle Erfolge verspricht.

Während manche Bundesminister auf das Anwachsen der Flüchtlingszahlen erst spät und zu langsam reagierten, sind das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) die beiden Ressorts in der Bundesregierung, die schon lange hart am Flüchtlingsthema arbeiten. Seit Jahren bemühen sich die Diplomaten und Entwicklungsstrategen um die Bekämpfung von Fluchtursachen sowie darum, gefährdete Länder zu stabilisieren, Kriege zu verhindern oder zu beenden.

"Migrationswellen beginnen nicht in Budapest"

„Die Migrationswellen beginnen ja nicht am Ostbahnhof in Budapest und auch nicht am Strand von Kos“, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) diese Woche im Bundestag, „sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Nachbarländer nicht mehr in der Lage sind, die menschlichen Notlagen in den Griff zu bekommen.“

Dass die deutsche Politik mit begrenzten Ressourcen dabei auf vielen Kontinenten ansetzen muss, zeigt ein Blick auf die Statistik der Hauptherkunftsländer der Asylbewerber in Deutschland. Neben Staaten des Westbalkans waren das im ersten Halbjahr 2015 Syrien, der Irak, Afghanistan, Somalia, Eritrea, Nigeria und Pakistan. Nach fast fünf Jahren Bürgerkrieg in Syrien sind mittlerweile zwölf Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als vier Millionen sind über die Landesgrenzen geflohen, die meisten in die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien.

Deutschland hat zur Stärkung und Stabilisierung der Region seit 2012 mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Davon erhalten Flüchtlinge unter anderem Zuschüsse für Nahrungsmittel und Miete, Schulunterricht für Kinder, Berufsbildungskurse oder auch psychosoziale Unterstützung für Gewaltopfer. Weitere 400 Millionen Euro für die Krisenbewältigung und -prävention des AA genehmigte der Koalitionsausschuss am Sonntag.

Flüchtlingshilfe und Fluchtprävention erreicht aber nicht nur jene Ländern, die wie gegenwärtig Syrien die Schlagzeilen bestimmen. Dazu zählt das BMZ etwa auch Wasserprojekte im Tschad, landwirtschaftliche Beratung in der Zentralafrikanischen Republik oder Schul- und Berufsbildung für ehemalige Kindersoldaten in Mali und im Niger.

Aufnahmeländer in der Region stärken

Während viele Staaten nicht einmal ihre Hilfszusagen an internationale Organisationen erfüllen und das UN-Flüchtlingshilfswerk deshalb seine Essensrationen in Flüchtlingslagern im Irak und im Libanon halbieren muss, bemüht sich die Bundesregierung, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. „Wirklich vorbildlich im internationalen Vergleich“, nennt der Flüchtlingsexperte Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik das finanzielle deutsche Engagement und lobt Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) für Umstrukturierungen in seinem Ressort. „Am dringendsten, wichtigsten und wirksamsten“ sei gegenwärtig der Versuch, Aufnahmeländer wie die Türkei oder Jordanien zu unterstützen, sagt der Wissenschaftler.

Genau dafür soll laut dem Koalitionsbeschluss vom Sonntag auch ein Teil der zusätzlichen 400 Millionen Euro für das AA dienen. Wenn die Lebenschancen Geflohener innerhalb Syriens und in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer verbessert werden können, so die Überlegung, machen sich weniger auf den Weg nach Europa. Die Bundesregierung verspricht in dem Konzept auch, ein EU-Projekt zum Aufbau eines Asyl-Informationsbüros im Niger auszubauen oder Informationskampagnen in Medien und sozialen Netzwerken zu verstärken, um falschen Vorstellungen vom vermeintlichen Paradies Deutschland entgegenzuwirken. Für verbesserungswürdig hält Experte Angenendt allerdings die Abstimmung zwischen der Nothilfe, für die das AA zuständig ist, und der Strukturhilfe des BMZ.

An der westlichen Militärintervention gegen Libyens Diktator Muammar al Gaddafi hatte sich Deutschland so wenig beteiligt wie am Irakkrieg – vor allem aus Furcht vor einem Zerfall des Landes. Tatsächlich kollabierte in dem nordafrikanischen Land die Staatlichkeit, Waffen des Regimes destabilisierten westafrikanische Länder, die Kontrolle über die Grenzen ging verloren, weshalb der Migrationsdruck aus Afrika nach Europa stieg. Auch wegen der Bedeutung des Transitlands als Flüchtlingsroute unterstützt Steinmeier die UN-Bemühungen um eine Aussöhnung und brachte die Kriegsparteien im Juni in Berlin erstmals an den Verhandlungstisch, die zuvor nie miteinander in einem Raum gesessen hatten.

Das kleinere Übel? Die Stimmen mehren sich, Syriens Machthaber Assad im Amt zu belassen.
Das kleinere Übel? Die Stimmen mehren sich, Syriens Machthaber Assad im Amt zu belassen.
© dpa

Ohne eine Stabilisierung Syriens, so glaubt die Bundesregierung, werden dessen Bürger weiter nach Europa drängen. Im Atomabkommen mit dem Iran vom Juli sieht Außenminister Steinmeier eine Chance, eine neue Dynamik in der Diplomatie der Krisenregion anzustoßen. Denn der Iran spielt in dem Konflikt eine Schlüsselrolle. Angesichts der Ausweitung des militärischen Engagements Russlands und verstärkter Luftangriffe auf die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) durch Frankreich und Großbritannien fürchtet er um diese Gelegenheit zum Ausgleich zwischen Syrern, Regional- und Großmächten. Deshalb drängt Steinmeier nun darauf, die letzten Chancen in einer diplomatischen Initiative schnell auszuloten.

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die deutsche Außenpolitik in diesem Zusammenhang eine wichtige Position geräumt: Noch im Juni 2014 hatten die G-7-Staats- und Regierungschefs beschlossen, es könne für Assad, der für Hunderttausende von Toten verantwortlich sei, „keine Zukunft in Syrien“ geben. Doch weil alle bisherigen Anstrengungen des Westens für eine Einhegung des Konflikts gescheitert sind, lässt sich die auch moralisch begründete Linie nicht mehr halten. Einige EU-Staaten haben schon wissen lassen, dass sie Assad im Vergleich zur Bedrohung durch den IS für das kleinere Übel halten.

In Sachen Syrien nichts auschließen

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wies am Montag in der Fraktionssitzung der Union auf „interessante Entwicklungen“ im Hinblick auf Syrien und Assad hin und erklärte, dass man in diesem Zusammenhang „nichts ausschließen“ solle, wie Teilnehmer berichten. Auch AA-Sprecher Martin Schäfer bekräftigte am Freitag die frühere Totalabsage an Assad nicht mehr. Stattdessen meinte er nur, es sei angesichts der Grausamkeiten Assads wie dem Abwerfen von Fassbomben schwer vorstellbar, „dass die Syrer sich auf etwas einigen, wo Assad noch eine Rolle spielen kann“.

Die Bundesregierung jedenfalls scheint entschlossen, die letzte Chance zu einer Verhandlungslösung zu nutzen und auch die Unterstützer Assads mit einzubinden. Mit „schmutzigen Kompromissen“, wie sie der Politikwissenschaftler Johannes Varwick für unerlässlich hält, freundet sie sich offensichtlich langsam an.

Schnelle Erfolge ihrer Anstrengungen im Kampf gegen Fluchtursache erwartet die Regierung realistischerweise nicht. „Die Lage ist schwierig“, sagte Steinmeier am Mittwoch im Bundestag. Trotzdem weigere er sich „anzunehmen, dass alle außenpolitischen Bemühungen aussichtslos oder vergeblich sind“.

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