Pflegenotstand: Wie der Pflegeberuf für junge Menschen attraktiv wird
Die Generationen Y und Z wollen einen sinnvollen Job, aber auch Unabhängigkeit und Spaß. Den potentiellen Pflegern muss mehr Geld, Zeit und Sinn geboten werden. Ein Gastbeitrag.
Deutschland gehen die Kümmerer aus. In den nächsten Jahren fehlen in den Heimen, Kitas und Schulen Hunderttausende Pfleger, Erzieher und Lehrer. 200.000 sind es im Pflegebereich, 300.000 in den Kitas und 35 000 allein in den Grundschulen. Mehr als eine halbe Million beträgt die Personallücke. Die Deutschen werden älter, es werden mehr Kinder geboren beziehungsweise wandern ein und die Nachfrage nach Betreuung und Bildung steigt. Eine älter werdende Gesellschaft, eine veränderte Berufs- und Familienwelt werten den Dienst am Menschen auf. Pflegern, Erziehern und Lehrern gehört die Zukunft. Die rund fünf Millionen Beschäftigten in den sozialen Berufen sind die Trendsetter einer vernetzten und verdichteten Arbeitswelt. 80 Prozent von ihnen sind Frauen.
Die Kümmerer heute und morgen, die Generationen Y und Z wollen anders leben und arbeiten. In Befragungen antworten sie auf die Frage nach ihrem wichtigsten Lebensziel: ein sinnvoller Job neben Unabhängigkeit und Spaß, das eigene Leben zu genießen. Die Jahrgänge 1980 bis 2000 legen mehr Wert auf Freizeit und Vereinbarkeit mit der eigenen Familie. Sie wissen, was Stress, Zeitnot und Burn-out aus ihren Eltern gemacht haben. Wer die künftigen Kümmerer für sich gewinnen will, muss sich etwas einfallen lassen. Es geht um einen Mix aus mehr Geld, Zeit, attraktiven Arbeitsbedingungen und einer sinnstiftenden Tätigkeit. Höhere Löhne allein werden den Notstand in den Pflegeheimen, Kitas und Schulen nicht beheben, solange sonst alles beim Alten bleibt.
Not macht erfinderisch. Die Politik reagiert auf den Megatrend der alternden und anders arbeitenden Gesellschaft mit einem Mix an Maßnahmen und Ideen. Um mehr Fachkräfte zu gewinnen, setzt die Bundesregierung ab kommendem Dienstag in ihrer „Konzertierten Aktion Pflege“ auf mehr Geld, flexible Arbeitszeiten und eine Qualifizierungsoffensive.
Mehr Geld und mehr Zeit
Dabei geben die Pläne des neuen Pflegebeauftragten Andreas Westerfellhaus die Richtung auch für die Berufe der Erzieher und Lehrer vor. Zu den Punkten einer „guten und verlässlichen Pflege“ gehören Prämien für Rückkehrer, die Vollzeit arbeiten, und für Teilzeitkräfte. Prämien für zusätzliche Kräfte sollen auch die Betreiber von Heimen bekommen. Zudem werden die Kosten für die Ausbildung künftig entfallen. Neben mehr Geld geht es zweitens um mehr Zeit. Kaum eine Pflegekraft, Erzieher(in) oder Lehrer(in) will Vollzeit arbeiten. Der Vorschlag eines „Flächenmodells“, nach dem alle Fachkräfte den vollen Lohn erhalten, obwohl sie nur 80 Prozent arbeiten, ist ein echter Fortschritt. Der neue Weg heißt „kurze Vollzeit“. Danach arbeitet Vollzeit, wer auch weniger als die volle Stundenzahl tätig ist.
Neben mehr Geld und flexiblen Arbeitszeitmodellen soll drittens eine Qualifikationsoffensive und ein besseres Image die Freude am Beruf wecken. Kaum eine Rolle spielen in der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive zur Altenpflege bislang die Zukunftstechnologien Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Pflege 4.0? Fehlanzeige auch bei den Trägern der Heime.
Digitale Möglichkeiten werden kaum genutzt
Dabei ist das digitale Potenzial groß. Roboter und künstliche Assistenzsysteme geben Pflegekräften und Ärzten mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe: sich um Menschen und Patienten zu kümmern. Umfragen und Studien zufolge sind beide – Pflegekräfte und zu Pflegende – von den Chancen der neuen Technologien überzeugter als der Rest der Bevölkerung. Telemedizin und Monitoring-Apps werden von den Betroffenen akzeptiert. In den Kitas und Schulen werden die digitalen Möglichkeiten ebenfalls kaum genutzt. Roboter bei der Sprachförderung und individuelles Lernen, unterstützt von Apps und neuen Medien, stoßen in Deutschland zu schnell auf Vorbehalte und Vorurteile. Lieber gewöhnt sich das hiesige Bildungsbürgertum an Ergebnisse wie Iglu und Pisa, die dem deutschen Bildungswesen ein katastrophales Zeugnis ausstellen. Während Bürger und Unternehmen längst auf dem Weg in die vernetzte Arbeits- und Lebenswelt sind, befinden sich Heime, Kitas und Schulen technologisch auf dem Stand der letzten industriellen Revolution.
"Dienst am Menschen" als Nachfolger des Zivildiensts
Junge Menschen wissen oft noch nicht, was sie später genau machen wollen. Die Lebensphase zwischen zwölf und 16 Jahren ist entscheidend für die berufliche Orientierung. Der deutsche Sozial- und Gesundheitsbereich hat in dieser Altersgruppe eine der geringsten Engagementquoten. Das liegt nicht an den Jugendlichen, sondern an einem Mangel an Gelegenheiten und Sinn. „Care first“! Jeder Jugendliche macht während der Schulzeit ein soziales Praktikum in einer Kita, einer Schule oder einem Pflegeheim. Vorbild könnte eine Initiative sein, die vor zehn Jahren im Schulwesen begann: „Teach first!“ Die Idee ist auch auf Pflegeheime und Kitas anwendbar: Hochschulabsolventen werden für zwei Jahre bezahlt und sind an Schulen in sozialen Brennpunkten tätig, um dort gezielt lernschwache Kinder zu stärken und zu fördern. Was früher der Zivildienst war, ist in Zukunft ein flexibler „Dienst am Menschen“. Bevor man eine Ausbildung oder ein Studium beginnt, kümmert man sich um bedürftige Menschen.
Kommende Generationen sind für eine Tätigkeit im Pflege-, Erzieher- und Schulbereich zu gewinnen, wenn sie darin für sich einen Sinn sehen. Es geht in Zukunft nicht nur um Pflege und Fürsorge, es geht auch um Selbstfürsorge. Irgendwas mit Medien, Menschen und Maschinen? Dann kümmere dich und werde Pfleger, Erzieher oder Lehrer!
Daniel Dettling leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts, das zu den größten Thinktanks der Trend- und Zukunftsforschung im deutschsprachigen Raum gehört.
Daniel Dettling