8. Mai 1945: Wer von einer "Stunde Null" spricht, ist ignorant
Einsicht und Ignoranz: Der 8. Mai markiert weder das Kriegsende noch einen allgemeinen Tag der Befreiung. Ein Kommentar.
Diese Woche steht ganz im Zeichen von Kriegsende und Befreiung. Vor 70 Jahren war das, am 8. Mai 1945. Dieser Tag wird auch als „Stunde Null“ bezeichnet. Doch das alles gilt nur aus einer sehr westdeutschen, sehr engen Perspektive. Aus ihr spricht Einsicht, aber auch Ignoranz. Denn mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete weder der Zweite Weltkrieg, noch erlebten diesen Tag viele Millionen Menschen in Osteuropa, dem Baltikum und der bald darauf sowjetisch besetzten Zone als Befreiung.
Nach dem 8. Mai wurde noch weitergekämpft - in Asien
Damit das klar ist: Die Armeen der Alliierten, einschließlich der Roten Armee, haben gegen die Achsenmächte, insbesondere Deutschland, Italien und Japan, einen gerechten Krieg geführt. Die Verursacher des Zweiten Weltkrieges mussten besiegt, die KZ-Insassen befreit, den unterjochten Völkern ihre Freiheit zurückgegeben werden. Dafür gebührt den Alliierten Dank, vor allem der Dank der Westdeutschen. Sie konnten ohne das Hitler-Regime neu anfangen und wurden großzügig, etwa durch den Marshallplan, unterstützt.
Ein Ende des von Nazi-Deutschland entfesselten Krieges allerdings bedeutete der 8. Mai 1945 nicht. Das wäre eine germano- und eurozentristische Sicht. Zu einem globalen, einem Weltkrieg nämlich war er erst durch den Überfall der Japaner auf Pearl Harbor und der darauf folgenden Beteiligung Amerikas geworden.
Drei lange Monate nach dem 8. Mai 1945 wurde im asiatisch-pazifischen Raum noch weitergekämpft. Am 6. und 9. August ließ die amerikanische Führung zum ersten Mal in einer militärischen Auseinandersetzung Atombomben abwerfen. Sie fielen auf Hiroshima („Little Boy“) und Nagasaki („Fat Man“), mehr als 200 000 Menschen wurden getötet, viele weitere starben an den Spätfolgen. Erst am 15. August 1945 verkündete Kaiser Hirohito die Kapitulation Japans. Dieser Tag markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auch im Begriff der „Befreiung“ stecken (west)deutschspezifische Wahr- und Falschheiten. Wahr ist: Die Deutschen mussten von Adolf Hitler und dem NS-Regime befreit werden, weil sie das trotz Roter Kapelle und den Widerständlern um Graf Stauffenberg aus eigener Kraft nicht geschafft hatten. Wahr ist auch: Mit dieser Befreiung zogen in Westdeutschland recht rasch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte und das Wirtschaftswunder ein. Überdies garantierte die Einbindung der Bundesrepublik in die Nato ein hohes Maß an Sicherheit.
Jenseits des Eisernen Vorhangs indes begann für manche Völker nach dem Sieg über den Nationalsozialismus der Übergang in eine andere, die kommunistische Diktatur. Die Speziallager in Buchenwald und Sachsenhausen wurden von den Sowjets einfach weitergeführt. Eugen Kogon schrieb darüber in seinem Standardwerk „Der SS-Staat“: „NKWD-Personal bewacht die Gefangenen, verwaltet das System. Gegen frühere Nationalsozialisten? Gegen jedermann, der als ,Staatsfeind‘ verdächtig ist. Oder als ,Agent einer ausländischen Macht‘. Oder als ,Klassenfeind‘, als ,Kulak‘, als sonst etwas.“
Befreiung von Hitler? Ja. Befreiung von Furcht, Terror und Unterdrückung? Millionen Menschen im Osten Europas haben in dieser Hinsicht leidvolle Erfahrungen machen müssen, die der westdeutschen „Befreiungs“-Metaphorik entgegenstehen.