Der riskante Ruf nach Zusammenhalt: Wer nicht streiten will, schadet der Demokratie
Besonders bei der Identitätspolitik zeigt sich: Die Toleranz für Konflikte nimmt ab. Aber Konflikte an sich sind keine Gefahr für das Gemeinwesen. Ein Gastbeitrag.
- Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University und ist derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg sowie am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ in Berlin.
Außer über das desaströse Pandemiemanagement wird über kaum etwas so viel geklagt wie über die Spaltung der Gesellschaft. Man müsse, so heißt es allenthalben, unseren Zusammenhalt stärken. Auf den ersten Blick kann niemand etwas gegen diese Forderung haben – außer den Verdacht, viele Reden über Gemeinsinn seien ein Rennen um die besten Gemeinplätze.
Auf den zweiten Blick darf man jedoch fragen, wie der Ruf nach Kohäsion eigentlich mit einem zentralen Begriff im bundesrepublikanischen Demokratiediskurs zusammenpasst (für den es in anderen Sprachen kein Äquivalent gibt): Streitkultur. Denn immer noch gilt: Konflikt ist nicht an sich eine Gefahr für das Gemeinwesen; es kommt ganz darauf an, wie Streit angezettelt wird und unter welchen Bedingungen er beigelegt werden kann. Das gilt nicht zuletzt für die viel geschmähte Identitätspolitik.
Zusammenhalt, darauf hat der Philosoph Rainer Forst hingewiesen, ist kein Wert an sich: Bei der Mafia hält man ja auch zusammen. Zusammenhalt muss sich an demokratische Grundvorstellungen von Freiheit und Gleichheit rückbinden lassen; erst dann wird das Wort nicht zum Kürzel für allen möglichen kommunitaristischen Kitsch oder Sonntagsreden-Kleister, mit dem sich legitime Konflikte unsichtbar machen lassen.
Auch heute gilt noch, woran ein großer Liberaler wie Ralf Dahrendorf nicht müde wurde seine gemeinschaftsseligen Landsleute zu erinnern: „Konflikt ist Freiheit“. Er zog in seinem 1965 erschienen Klassiker über "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" sogar den weitergehenden Schluss, liberale Demokratie sei „Regierung durch Konflikt“.
Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein in einem pluralistischen Gemeinwesen, das gerade wegen dieses Pluralismus demokratisch sein muss: Wenn alle identisch dächten, gäbe es wohl kaum Konflikte und deshalb keinen Bedarf an demokratischen Institutionen.
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Denn deren Versprechen, anders als dies Advokaten einer illiberalen, sprich: nicht-pluralistischen, Demokratie darstellen, ist es gerade, dass man Differenzen aushält und Konflikte auf friedliche Weise regelt. Das geschieht bekanntlich durch Mehrheitsentscheidungen bei Wahlen. Und deren Clou wiederum ist es, dass keine Wahl die letzte sein darf und jeder Konflikt bei der nächsten Abstimmung auch wieder aufs Tapet kommen und anders entschieden werden kann.
Man wirft nun denjenigen, die angeblich Identitätspolitik betreiben (allerdings auffallend häufig ohne konkrete Beispiele zu nennen) vor, sie hielten sich – selbstgerecht und selbstermächtigend -- gerade nicht an das demokratische Spiel. Anstatt die andere Seite als legitimen Partner im Konflikt anzuerkennen, werde sofort „gecancelt“ – und wer gecancelt ist, kann auch bei der nächsten Abstimmung nicht mehr gewinnen.
Früher ließ sich mehr Geld regeln, das war einfacher
Zudem heißt es, früher sei die Lösung von Auseinandersetzungen einfacher gewesen, weil man über materielle Interessen relativ emotionslos verhandeln könne; bei Identitäten hingegen gäb‘s keine Kompromisse: Nicht nur Rechtspopulisten würden heute Kulturkampf zu ihrem politischen Geschäftsmodell machen; auch narzisstische Linke mit ihrem nie stillbaren Bedürfnis nach Anerkennung immer ausgefallenerer Identitäten (man komme ja bei den ganzen LGTwhatever-Abkürzungen gar nicht mehr mit!) machten Kultur, statt materieller Interessen, zum Hauptschauplatz der Politik.
[Lesen Sie hier bei T-Plus: Wo laufen die Wähler hin? Jedenfalls nicht mehr dem Geld hinterher - Das hat Folgen für die Konfliktbewältigung im Land.]
Doch diese „zwanghafte Symmetrisierung“ (Jürgen Habermas) von rechts und links ist letztlich auf dem linken Auge blind. Erstens geht es bei viel von dem, was heute als Identitätspolitik verdammt wird, nicht um symbolische Anerkennung oder gar subjektive Gefühlszustände: Man will Grundrechte verwirklichen, auf der Basis letztlich gesamtgesellschaftlich geteilter Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit.
Bei Bewegungen wie Black Lives Matter und MeToo sollte das offensichtlich sein: Niemand will von der Polizei malträtiert oder gar getötet werden; ebenso ist die Forderung, nicht von mächtigen Männern belästigt oder gar vergewaltigt zu werden, kein skurriler Sonderwunsch einer dauerbeleidigten Minderheit, sondern prinzipiell für alle nachvollziehbar.
[Lesen Sie hier bei T-Plus: Linke Identitätspolitik bricht nicht mit dem liberalen Versprechen. Sie will es vollenden.]
Deswegen stimmt auch die simple Gegenüberstellung von Interessen und Identitäten nicht (ebenso wenig wie Vorstellung, es hätte ein Goldenes Zeitalter rein rationaler Verhandlungen gegeben). Denn ausdifferenzierte Rechte sind auch eine Verteilungsfrage; über etwas wie "Affirmative Action" in den USA kann man sehr verschiedener Ansicht sein, ohne davon ausgehen zu müssen, die andere Seite in der Debatte sei moralischer Abschaum. Und früher war alles weder anders noch besser: Sozialisten verstanden sich nicht nur als eine Art Lobby für Lohnarbeiter, sondern kämpften für die Anerkennung der Würde der Verdammten dieser Erde.
[Alle aktuellen Entwicklungen in der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Identitäten und sogar Ideale können zudem durchaus flexibel sein: Wenn es immer etwas klischeehaft heißt, Konflikte sollten „produktiv“ sein, dann kann doch damit nicht primär gemeint sein, es gebe am Ende eine Lohnerhöhung, mit der alle leben können. Vielmehr sollte Streit ein Lernprozess sein, in dem man sich selbst und seine moralischen Vorstellungen am Ende in neuem Licht betrachtet.
Nur: Wer gecancelt wird, muss ja dann wohl für sich alleine lernen - so oder ähnlich würden die Anti-Identitätspolitiker wohl argumentieren. Die Frage: Ist „canceln“ (wie schon „politically correct“ in den 1980er Jahren) nicht ein Kampfbegriff von interessierter Seite, um Kritik von vornherein zu delegitimieren?
Der Boykottaufruf gegen "Jud Süß" wurde vom Gericht verteidigt
Auch hier sei noch einmal auf etwas spezifisch Deutsches verwiesen: In einem Ur-Urteil des deutschen Verfassungsrechts wurde dem Hamburger Publizisten Erich Lüth im Namen der Meinungsfreiheit erlaubt, zum Boykott eines Films von Veit Harlan – Regisseur des antisemitischen Propagandafilms „Jud Süß“ – aufzurufen. Karlsruhe sah solches Anstacheln – das man als Canceln avant la lettre verdammen könnte – als legitimen Bestandteil einer in der Demokratie unverzichtbaren ständigen geistigen Auseinandersetzung. Schließlich konnten sich Harlan und seine Verteidiger auch weiter zu Wort melden.
All das soll nicht heißen, dass jeder Claim von Opfern automatisch abgenickt werden muss. Auch kann man nie ausschließen, dass beispielsweise Rassismusvorwürfe missbraucht werden; dafür lassen sich in den USA genügend Beispiele finden. Nur ist das kein Grund, Bewegungen als Ganze zu diskreditieren. Man denkt auch nicht, ein oder zwei Betrugsfälle bei der Sozialversicherung zeigten, dass das mit dem Wohlfahrtsstaat ja eh alles nichts sei.
Und die Gleichsetzung von vermeintlich linkem und rechtem Kulturkampf? Rechtspopulisten betreiben systematisch den Ausschluss von Minderheiten; ihre Rede lautet: „Ihr gehört gar nicht dazu.“ Bewegungen wie Black Lives Matter sagen: „Ihr hört gar nicht zu“ (weswegen auch jahrzehntelang Polizeigewalt ungestraft blieb). Opfer, so der Philosoph Thomas McCarthy, müssten immer das erste Wort haben, aber nicht das letzte. Das kann es erst nach einer demokratischen Auseinandersetzung geben. Und diese stärkt im Idealfall den Zusammenhalt aufgrund dessen, was der Bürgerrechtler John Lewis einmal good trouble, necessary trouble nannte.
Jan-Werner Müller
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