Streitkultur: Wer kann schon richtig diskutieren?
Unterhalten Sie sich noch über Flüchtlingspolitik? Besser nicht? Bei manchen Themen hält man inzwischen den Mund. Eine Kolumne.
Während meiner Schulzeit in Hamburg stellte sich der Geku-Lehrer – Geku für Gemeinschaftskunde – einmal zu Beginn der Stunde vor die Klasse und fragte, ob wir in den folgenden 45 Minuten irgendein Fachthema behandeln wollten, „oder wollen wir diskutieren?“ Die Klasse war fürs Diskutieren.
Ich fand die Frage des Lehrers immerhin so bemerkenswert, dass ich sie mir jahrzehntelang gemerkt habe. Sie diente in manchen Jammergesprächen darüber, was Schule alles nicht kann und ist, als viel beklatschter Beleg für schon seit Urzeiten vorkommende ehrgeizlose Pädagogen und mangelnde Wissensvermittlungsorientierung im Bildungswesen – vor allem in SPD-geführten Landesressorts.
Diskutieren statt ein Fachthema vermitteln? Lieber Herr Lehrer, geht’s noch?
In der Theorie toll, und die Praxis?
Später muss man sich nämlich, was man damals nicht zu lernen hatte, nachträglich mühsam selbst beibringen, oder alternativ ebenso mühsam versuchen, die Wissenslücken zu übertünchen und zu verschleiern. Über Jahre hat mich die Lehrerfrage deshalb aus unterschiedlichen Anlässen immer wieder geärgert. Inzwischen kommt mir die Frage aber viel öfter aus einem anderen Grund in den Sinn.
„Oder wollen wir diskutieren?“ Was für ein Angebot. In der Theorie eine Einladung zum Austausch von Argumenten und Ansichten mit der Möglichkeit, anhand des Gehörten die eigene Position zu überprüfen. Und wie sieht es in der Praxis aus?
Es gibt aktuell wahrlich interessante und relevante Themen, die kontrovers zu diskutieren sind. Seien es Klimawandel und die Frage nach dem individuellen Verzicht oder immer wieder die Flüchtlingsfrage. Doch geschieht das nicht wirklich. Die Themen wabern eher herum und werden zögerlich adressiert, denn sie sind verdächtig, Unfrieden zu stiften. Besser also nur mit Gleichgesinnten thematisieren oder den Mund halten.
"Ist doch Quatsch" geht natürlich nicht
Was ist da los? Viele derjenigen, die heute mit für diese Unbesprechbarkeit sorgen, dürften zu der Generation gehören, deren Eltern dereinst augenrollend konstatierten, dass sie außer Diskutieren in der Schule nichts gelernt hätten. Haben sie aber gar nicht. Nicht mal das können sie – können wir – richtig.
Neulich sprach ich mit einer Freundin über Carola Rackete und die Flüchtlinge im Mittelmeer. Rackete und Co. würden dafür sorgen, dass immer weiter Flüchtlinge den Weg übers Mittelmeer nach Europa anträten, sagte die Freundin, sie seien eine Art Shuttle, auf den die Flüchtlinge sich verlassen könnten. Ich war anderer Meinung. Die Flüchtlinge riskieren ihr Leben, sind Zwängen ausgesetzt, von denen wir hier keine Ahnung haben, und dass jedes kleine Schlauchboot, das sich auf den Weg macht, garantiert von einem der wenigen herumfahrenden Rettungsschiffe gefunden wird, kann ich auch nicht glauben. Dafür ist das Mittelmeer auch an der Stelle noch viel zu groß.
Gesagt habe ich: „Ist doch Quatsch.“
Meinung - oder Haltung
Aus persönlichem Erleben konnte keine von uns Wegweisendes beisteuern. Jede hatte nur gehört oder gelesen – und sich irgendwann eingebildet, dass sie sich eine Meinung gebildet hätte. Hatten wir? Oder hatten wir uns nur auf eine Seite geschlagen? Dafür oder dagegen. Und fertig.
Und das ist der Fehler. Weil man, hat man sich erst mal auf eine Seite geschlagen, nicht mehr so gern diskutiert. Man beginnt dann zu verteidigen. Die Positionen der Anderen sind nichts mehr, worüber man nachdenkt, was man in seine Gedanken einspeist, was einen potenziell weiterbringt. Sie sind abzuwehren, im Keim zu ersticken, als falsch zu entlarven. In Talkshows ist diese Art Mehr-Personen-Gespräch, das eher eine verbale Schlagabtauscharena ist, schon länger in der Kritik. Aber sicher finden auch viele Menschen sie in ihrem privaten Umfeld wieder.
Verlieren ist hierzulande ganz schlecht
„Oder wollen wir diskutieren?“ Heute würde ich den Satz gern öfter hören. Ich habe der Freundin, mit der ich über Rackete sprach, von dem Geku-Lehrer von damals erzählt, um das Befremden und das Schweigen zu brechen, das sich nach meiner „Quatsch“-Bemerkung breit machte. Und sie war schnell wie ich der Meinung, dass wir vergleichsweise schlecht diskutieren können.
Es ist fast wie mit dem „Scheitern als Chance“, das gern proklamiert, aber nur selten wirklich so gesehen wird. Scheitern ist hierzulande mehr ein Ausweis von Nicht-Können oder Glücklosigkeit. Ist es beim Diskutieren ähnlich? Wer mit einem Satz/Unternehmen anfängt, will ihn/es zum Erfolg führen, weil er sonst verloren hat? Aber was eigentlich?