SPD nach dem Rücktritt von Andrea Nahles: Wer kann die Genossen retten?
Der Rückzug von Andrea Nahles stürzt die SPD ins Chaos. Vor schwierigen Landtagswahlen muss sie Nachfolger finden – doch die Personalreserve ist dünn.
Keine Partei verschleißt so viele Vorsitzende wie die SPD.
Seit dem Rücktritt von Gerhard Schröder von seinem Parteiamt im Herbst 2002 standen sechs Sozialdemokraten regulär an der Spitze, Franz Müntefering sogar zwei Mal. Mit Andrea Nahles geht nun Nummer sieben von Bord.
Wie schnell können die Genossen das Machtvakuum an der Spitze beenden?
Der nächste Parteitag, der regulär im Dezember stattfinden sollte, könnte auf den September vorgezogen werden, heißt es in der SPD. Bis dahin wird eine Führung des Übergangs gebraucht, doch die Personalreserve der Sozialdemokratie ist dünn. Dass SPD-Vize Olaf Scholz kommissarischer Vorsitzender wird, gilt als unwahrscheinlich. Denn der Vizekanzler hat in der Partei viele Gegner, auch weil er sich 2018 für den erneuten Gang der Partei in die große Koalition stark gemacht hatte. Kritiker werfen ihm Leisetreterei im Bündnis mit der Union vor.
Als Ersatz für die erste Frau an der Spitze der SPD halten viele die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer für besonders geeignet, allerdings verweisen Genossen zugleich auf gesundheitliche Probleme. Als Alternative käme Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig als kommissarische Vorsitzende in Frage. Dazu werden am Montag im Vorstand erste Entscheidungen erwartet.
Wie wird die Basis an der wichtigsten Personalentscheidung der SPD beteiligt?
Gefordert wird nun von vielen Seiten eine Urwahl des/der nächsten Vorsitzenden durch die Mitglieder. Viel Zeit bleibt nicht, zumal die Sommerferien anstehen und zahlreiche Regionalkonferenzen notwendig wären – ähnlich wie beim CDU-Wettbewerb um die Nachfolge von Angela Merkel. Außerdem stehen am 1. September die nächsten schwierigen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen an. Brandenburgs Regierungschef Dietmar Woidke warnte am Sonntag denn auch vor einer langen Hängepartie.
Wer könnte Andrea Nahles dauerhaft als Parteivorsitzende beerben?
Neben Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig fällt immer wieder der Name Stephan Weil. Der niedersächsische Ministerpräsident hat gezeigt, dass er Wahlen gewinnen kann – aber bisher alle Ambitionen bestritten. Allerdings dürfte der Druck auf Weil angesichts der existenzbedrohenden Lage der SPD steigen. Auch von einer Doppelspitzenlösung ist die Rede. Die Anforderungen sind hoch, allzumal nicht klar ist, welche Aufgabe auf die neue Spitzenkraft zukommt.
Im Kern geht es um die Frage, ob die SPD in der großen Koalition bleibt. Dann muss der oder die Parteivorsitzende den Spagat zwischen eigener Profilschärfung und verlässlichem Regieren fortführen, an dem Nahles gerade gescheitert ist. Gesucht wird ein Versöhner und Brückenbauer, einer oder eine, der auch die erstarkende Parteilinke um Juso-Chef Kevin Kühnert unter Kontrolle bringen kann.
Wer wird neuer Fraktionschef?
Die für Dienstag von Nahles geplante vorgezogene Neuwahl, mit der sie die Machtfrage klären wollte, dürfte erst einmal verschoben werden, um Zeit zu gewinnen. Bisher gibt es noch keinen Kandidaten für die Nachfolge – und sich jetzt aus der Deckung zu wagen, könnte zu neuen Konflikten führen. Von den Stellvertretern soll der profilierte Außenpolitiker Rolf Mützenich kommissarisch den Vorsitz übernehmen. Als dauerhafte Nachfolger werden der Chef der Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen, Achim Post und der Sprecher der Parlamentarischen Linken, der Umweltpolitiker Matthias Miersch, gehandelt.
In welchem Zustand befindet sich die SPD nach Nahles’ Rückzug?
Geschockt und erschrocken, vor allem über sich selbst – so lässt sich die Stimmung in der Sozialdemokratie am Sonntag beschreiben. Der offen ausgetragene Machtkampf, die ins persönliche gehende Kritik an der Parteichefin – das hat Spuren hinterlassen. Die Verletzungen dürften der Partei, zu deren Grundwerten die Solidarität gehört, noch lange zu schaffen machen. Von „schändlichem“ Verhalten ist die Rede, das Wort von der Frauenverachtung macht die Runde.
„Die Art und Weise, wie manche in den Tagen seit der für uns verlorenen Europawahl mit Andrea Nahles umgegangen sind, war inakzeptabel“, sagte SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel. Auch Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, geht mit den Genossen hart ins Gericht: „Einige in der SPD sollten sich schämen.“
Andere wiederum erinnern an Nahles’ Leistungen, an den von ihr angeschobenen Erneuerungsprozess. Nahles hatte Debattencamps organisiert, ein neues Sozialstaatskonzept zum Heilen der Hartz-IV-Wunden vorgelegt, versucht, das daniederliegende Willy-Brandt-Haus auf Vordermann zu bringen.
Genutzt hat es wenig. Belohnt wurde weder Nahles selbst noch die Partei. Bei der Europawahl verloren die Genossen bei den unter 30-Jährigen massiv, nur noch neun Prozent dieser Altersgruppe stimmten für die SPD. Womöglich fehlt eine neue Idee, eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie die Sozialdemokratie für Sicherheit sorgen will bei all den Umwälzungen, die auf die Beschäftigten mit der Digitalisierung und dem Umstieg auf E-Mobilität zukommen.
Wie lange hält die große Koalition noch?
Sogar Vizekanzler Scholz verspricht seiner Partei, das sei nun wirklich die letzte Groko. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Bündnis bis zum regulären Wahltermin 2021 hält, ist stark gesunken. Schon auf dem SPD-Parteitag, der die Nahles-Nachfolge regelt, könnte das Ende der Koalition beschlossen werden – vor allem dann, wenn es bis dahin keine Einigung bei der Grundrente und für ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz gibt. Und dann sind da die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen Anfang September, bei denen der SPD herbe Verluste drohen.
Eine neue Forsa-Umfrage sieht die SPD nach dem historisch schlechten Europawahlergebnis von 15,8 Prozent bundesweit nur noch bei 12 Prozent. Und auch in der Union werden die Fliehkräfte stärker. Auch wenn sich CDU und CSU am Sonntag zu einer Fortführung des Bündnisses bekannt haben, könnte die neue Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer es am Ende mit einem Befreiungsschlag versuchen.
Was bedeutet das für die Grünen?
Mit Neuwahlen hätten die Grünen kein Problem: Die Umfragewerte liegen seit einer Weile stabil bei 20 Prozent, mit den Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck stünde außerdem ein Spitzenduo bereit, das sofort mit Wahlkampf loslegen könnte. Doch die beiden Vorsitzenden hüten sich, vorschnell das „N-Wort“ in den Mund zu nehmen. Schließlich haben die Grünen in den letzten Monaten sorgsam das Bild der (letzten) vernünftigen Kraft im Parteienspektrum gepflegt: Keine Selbstbeschäftigung und kein nerviger Flügelstreit, stattdessen die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen und Regierungsverantwortung zu übernehmen – auch in Konstellationen, die für die Partei unbequem sind.
Klar ist allerdings auch, dass die Grünen für einen politischen Neustart werben werden, wenn die große Koalition zerbrechen sollte. Ein Gesprächsangebot von CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer würde die Parteispitze sicher nicht ausschlagen. Aber intern lautet die Analyse, dass zwei Jahre nach der letzten Bundestagswahl eine Neuauflage der Jamaika-Gespräche mit Union und FDP nicht zu vermitteln wäre – zumal wenn diese mit einem Wechsel im Kanzleramt verbunden wäre. In einer solchen Situation müssten die Wählerinnen und Wähler neu befragt werden, heißt es in der Parteiführung.
Und auch wenn die Grünen von der Dauerkrise der Sozialdemokraten profitieren, bereitet diese vielen in der Partei zugleich Sorgen – nicht nur, weil eine gemeinsame Koalition mit der SPD auf Bundesebene damit in weite Ferne rückt. Manch einem wird auch mulmig bei dem Gedanken, dass die Grünen tatsächlich zur führenden Kraft der linken Mitte werden könnten, wie Parteichef Habeck es immer wieder gefordert hat. Ein Anspruch, der mit wesentlich mehr Verantwortung einhergeht.