Groko und die Zukunftsfragen: Wenn Stabilität zum Problem wird
Immer schön das Altbekannte wiederholen. Darin sind Ökonomie und Politik gut. Die Politik nennt es Stabilität. Und die Ökonomie? Erkennt den Fehler und ruft nach Anarchie. Eine Kolumne.
Das Argument, das am häufigsten für die nächste große Koalition angeführt wird, ist gar keins – sondern lediglich eine Behauptung: Deutschland braucht eine stabile Regierung. Mantramäßig wiederholt, immer wieder:
Deutschland braucht eine stabile Regierung.
Deutschland braucht eine stabile Regierung.
Deutschland braucht eine stabile Regierung.
Eine stabile Regierung ist etwas Ähnliches wie das Gegenteil von Anarchie. Huch, Anarchie? Vielleicht zucken Sie beim Lesen gerade zusammen. Anarchie ist völlig aus der Mode gekommen. Als Idee und sogar als Signet: ein A mit einem Kreis drum herum. Vor einer Woche aber brachte ein Student sie auf ein Podium.
Dort ging es auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung um Qualität und Zukunftsfähigkeit der Wirtschaftswissenschaften. Es diskutierten Peter Bofinger, einer der fünf Wirtschaftsweisen, die Grünen-Politikerin Katharina Dröge und Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Alle drei beklagten die universitäre Lehre. Die Basis der Ökonomie werde aus veralteten Büchern zitiert, es werde zu viel in komplizierten Formeln gerechnet und zu wenig nachgedacht. Uwe Schneidewind sprach von einem „Kanon der Verengung“, laut Peter Bofinger rühren Volkswirtschaftler vor allem „Gleichungen von rechts nach links“. Die Ökonomie, lernte das Publikum, ist ein kranker alter Mann, der sich an das klammert, was er immer schon behauptet hat, und nicht weiterdenkt, und der Nachwuchs beugt sich seinem Diktat, schließlich vergibt der Alte immer noch interessante Posten.
Und da kam also der Student zu Wort, der die stark verbreitete Angepasstheit seiner Kommilitonen bestätigte und einen Uni-Einführungskurs in Anarchie für Volkswirtschaftler vorschlug. Uwe Schneidewind griff das begeistert auf: „Anarchie ist der Kern guter Wissenschaft“, jubelte er. Anarchie also statt der Anhäufung von „instrumentellem Verfügungswissen“, das der Karriere dienen soll. Alles aus den Fugen reißen und neu oder gar nicht mehr zusammenbauen, statt alles nur wiederholen. Das passt natürlich nicht gut in ein Land, das sein Glück an Stabilität knüpft. Aber diese Stabilität ist eine Illusion. Sie ist die Damastdecke, die man auf dem Tisch glatt streicht, in den sich der Holzwurm gefressen hat.
Wenn Politiker sich hinter Ökonomen verstecken
Katharina Dröge berichtete aus ihrer Bundestagsarbeit, dass es dort immer wieder zu „Stellvertreterdiskussionen“ komme, wenn Politiker sich hinter Ökonomen versteckten, die je nach ihrer persönlichen Überzeugung die eine oder andere Lehrformel verträten. Bofinger ergänzte, dass „ein junger Mensch mit Visionen“ sich bei der Suche nach einem Lehrstuhl schwertun werde. Dabei scheinen einige Formeln überarbeitungsbedürftig zu sein: Die Ökonomen sahen die Bankenkrise nicht vorher, sie predigen ein Inflationsziel von zwei Prozent, dabei läuft die Wirtschaft auch mit weniger, sie stehen recht erklärungslos vor der Beobachtung, dass der wachsende Wohlstand am oberen Ende nicht nach unten durchsickert, was Bofinger die „Autoimmunkrankheit der Globalisierung“ nannte.
Alle großen politischen Themen sind auch ökonomische: Globalisierung, Digitalisierung, Naturschutz im Sinne von Ressourcenmanagement. Und wenn die Einschätzung des Podiums stimmt, taugen herkömmliche Formeln und Annahmen der Ökonomie allein zur Beantwortung der einhergehenden Fragen nicht. Es ist Neues nötig. Wie Schneidewind formulierte: „Wie müssen ökonomische Modelle aussehen, an denen Politik und Gesellschaft sich orientieren können?“ Eine Idee für die Zukunft ist die tiefgreifende Vernetzung von Ökonomie mit anderen Disziplinen: Soziologie, Psychologie, Kulturwissenschaft, Philosophie. Dafür waren alle auf dem Podium zu haben. Einen Aufruf für eine „transformative Wirtschaftswissenschaft“ gibt es bereits. Das wäre der wissenschaftliche Aufbruch. Und was ist mit dem politischen? „Das Problem dürfte sein, dass die jungen Politiker und Politikerinnen noch nie so angepasst waren und noch nie so in die etablierte Parteikultur integriert waren wie das heute der Fall ist“, sagte dazu jüngst der Jugendforscher Gerhard Heinzlmaier im Radio. Rebellentum à la Juso-Chef Kevin Kühnert sei vordergründig. Man mache mit und hoffe auf Karriere.
Und was sagt es eigentlich aus, wenn der Gedanke an einen Einführungskurs Anarchie am Anfang politischer Laufbahnen hundertmal absurder und illusorischer wirkt als ein Anarchiemodul für Ökonomen?