Volkswirtschaft: Ein Staatshaushalt ist kein Privathaushalt
Eine Forschergruppe um den Ökonomen Carl-Ludwig Holtfrerich rät zum Umdenken in der Sparpolitik.
Wolfgang Schäuble kokettiert gerne damit, Sohn einer schwäbischen Hausfrau zu sein. Und auch Angela Merkel hatte schon im Sommer 2008 bei einer Rede in Stuttgart die schwäbische Lebensweisheit zitiert: „Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“
Professor Carl-Ludwig Holtfrerich, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft und am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität, hält das Bild der sparsamen Schwaben zwar für geeignet, Wählerstimmen bei denen einzusammeln, die bloß den eigenen Haushalt im Blick haben müssen. „Aber es unterschlägt den fundamentalen Unterschied zwischen einem Privat- und einem Staatshaushalt im volkswirtschaftlichen Kreislauf – Merkel und Schäuble wissen, dass der Vergleich populistisch ist und ökonomisch unseriös“, sagt Carl-Ludwig Holtfrerich.
Der Ökonom ist Sprecher der Arbeitsgruppe „Staatsschulden in der Demokratie“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Er hat gemeinsam mit zehn weiteren Professorinnen und Professoren – insgesamt sechs Wirtschaftswissenschaftlern, einem Politologen und einer Politologin sowie je einem Soziologen, Historiker und Verfassungsrechtler – den Bericht „Staatsschulden: Ursachen, Wirkungen und Grenzen“ veröffentlicht. „Unser Anliegen war es, in allgemeinverständlicher Sprache die großen Zusammenhänge zu erklären, Beispiele aus der Geschichte zu zeigen und politische Handlungsempfehlungen zu formulieren.“ Zwar könne, so die Wissenschaftler, eine hohe Staatsverschuldung für eine Gesellschaft massive Probleme mit sich bringen. Dennoch müsse Staatsverschuldung als solche nicht notwendig nachteilig für Staat und Gesellschaft sein. „Das entscheidende Ziel staatlicher Finanzpolitik muss die Sicherung der Tragbarkeit der Staatsverschuldung sein“, sagt Holtfrerich.
„Entweder man senkt die Verschuldung oder man steigert das BIP"
Wichtigste Kennzahl hierfür ist zurzeit die sogenannte Staatsschuldenquote. Sie beschreibt prozentual das Verhältnis der Gesamtverschuldung eines Staates zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Wirtschaftsleistung eines Landes. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der auf einen Beschluss des Europäischen Rates vom Juni 1997 zurückgeht, sieht für den Euroraum eine Höchstquote von 60 Prozent vor. Derzeit beträgt sie in Deutschland etwa 69 Prozent, in Italien 132 Prozent; Griechenland ist sogar mit 182 Prozent seines jährlichen BIP verschuldet. Nur Estland, Lettland und Litauen, die Slowakei und Luxemburg sowie die außerhalb des Euro-Währungsgebietes liegenden Länder Dänemark, Schweden, Bulgarien, Rumänien, Tschechien und Polen erfüllen in der Europäischen Union derzeit den Stabilitätspakt.
„Um die Quote zu verringern, gibt es zwei Möglichkeiten – das ist ganz einfache Bruchrechnung“, sagt Holtfrerich. „Entweder man senkt die Verschuldung im Zähler des Bruches, indem man die Staatsausgaben verringert oder die Staatseinnahmen erhöht, oder man steigert das BIP, das im Nenner des Bruches steht.“
Die Bundesregierung legt derzeit ihren Schwerpunkt auf den Zähler des Bruches, also aufs Sparen: Gut sechs Jahre nach Merkels Spar-Apell in Stuttgart jubelt die CDU 2015 in einer Pressemitteilung: „Bundesminister Wolfgang Schäuble schreibt Geschichte. Bereits 2014 hat der Bund keine neuen Schulden mehr gemacht – ein Jahr früher als geplant. Ohne neue Schulden erreicht die CDU-geführte Bundesregierung den ersten ausgeglichenen Haushalt seit 1969. Auch in den kommenden Jahren heißt unser Ziel: Keine neuen Schulden.“ Carl-Ludwig Holtfrerich hält das für nicht erforderlich, langfristig sogar für gefährlich. „Um die Staatsschuldenquote zu senken, würde es völlig ausreichen, das weitere Wachstn unterhalb der Wachstumsrate des BIP einschließlich der Preissteigerungen zu halten“, sagt der Volkswirt. „Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann eine Stabilisierung durch erhöhte Staatsausgaben für Investitionen und eine angemessene Verschuldung das Wachstum stützen.“
Schulden sind nicht gleich Schulden
Wie hoch die Staatsschuldenquote sein darf, ohne dass das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt wird, haben Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität 2010 anhand historischer Daten von Finanzkrisen zu berechnen versucht. Sie kamen auf eine Quote von etwa 90 Prozent. „Allerdings ist dieses Ergebnis in der Fachwelt äußerst umstritten, weil es methodische Kritik an der Berechnung gibt“, sagt Holtfrerich. „Aus unserer Sicht gibt es eine solche Grenze nicht. Das Beispiel Japan zeigt, dass ein Staat Jahrzehnte lang sehr gut mit einer deutlich höheren Staatsschuldenquote – mehr als 200 Prozent seit 2011 – zurechtkommt, ohne dass die Kreditwürdigkeit Japans an den Kapitalmärkten darunter leidet.“
Schulden sind nämlich nicht gleich Schulden: Investiert der Staat in neue Schienentrassen, Straßen, Bildungseinrichtungen, Wohnungen oder Computersysteme, vergrößert dies buchhalterisch betrachtet sein Sachvermögen. Dagegen sind kreditfinanzierte Zahlungen für Pensionen und Zuschüsse zu den Sozialversicherungen Konsumausgaben. Sie fließen aus dem Staatshaushalt ab, aber es steht ihnen kein entsprechend erhöhtes staatliches Sachvermögen gegenüber.
Starre Instrumente, die nicht zwischen Schulden für Investitionen und für Konsum unterscheiden, sind daher in den Augen der an der Arbeitsgruppe beteiligten Wissenschaftler gefährlich. So etwa die 2009 von Bundestag und Bundesrat beschlossene Schuldenbremse, die verfassungsrechtlich schon jetzt die Neuverschuldung des Bundes auf nur 0,35 Prozent des BIP und die der Länder ab 2020 auf null begrenzt. Sie und die bereits zuvor praktizierte Sparpolitik haben über viele Jahre die staatlichen Investitionen verkümmern lassen. Diese liegen seit 2002 niedriger als die Abschreibungen auf das Staatsvermögen, also auf dessen Verschleiß. Zudem lade die Schuldenbremse des Grundgesetzes dazu ein, Schattenhaushalte zu führen und Infrastrukturprojekte vermehrt privat zu finanzieren, sagt Holtfrerich: „Was die Verfechter der Public-Private-Partnerships jedoch fast immer verschweigen: Die Kosten für die Projekte steigen durch solche Konstruktionen, da von den in privater Rechtsform organisierten Gesellschaften am Kapitalmarkt höhere Zinssätze verlangt werden als vom deutschen Staat mit seiner erstklassigen Bonität.“ Dass es möglich ist, die Staatsschuldenquote allein durch Wirtschaftswachstum wieder auf ein gesundes Maß zu begrenzen, zeigt ein Blick in die Geschichte: England befand sich nach der Glorious Revolution von 1688 bis zum Ende der Napoleonischen Kriege 1815 zu mehr als der Hälfte dieser Zeit im Krieg.
Die Kriege kosteten viel Geld, England verschuldete sich. Als es schließlich Napoleon 1815 besiegt hatte, litt die Wirtschaft im Königreich zunächst unter einer langen Depression. Aus den Zahlen, die für das Jahr 1820 vorliegen, ergibt sich eine Staatsschuldenquote von knapp 300 Prozent. „Wir wissen“, sagt Holtfrerich, „dass England wenig tat, die Staatsschulden abzubauen. Dennoch sank die Quote der Verschuldung bis zum Ersten Weltkrieg auf 26 Prozent – vor allem durch das Wirtschaftswachstum.“
Eine hohe Staatsverschuldung endet nicht zwangsläufig in einer Inflation
Aber endet eine hohe Staatsverschuldung nicht stets irgendwann in einer Inflation, weil die Regierung die Druckerpresse anwirft und das Geld entwertet? „Nicht zwangsläufig“, sagt der Ökonom. „Vergleicht man das Preisniveau in England 1820 mit dem von 1913, gibt es kaum Unterschiede, trotz der Tatsache, dass die Geldmenge enorm gewachsen war. Und obwohl die Notenbanken seit nunmehr fast zehn Jahren die Wirtschaft durch eine stark expansive Geldpolitik stimulieren, sind die Inflationsraten in den Industriestaaten weltweit auf einem historisch niedrigen Niveau verblieben.“
Holtfrerich gibt zu bedenken: „Addiert man Schulden und Geldvermögen, ergibt sich in der Summe eine Null. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir dürfen nicht vergessen, dass ohne Schulden kein Geldvermögen gebildet werden kann. Wenn der Staat weniger Kredit aufnimmt, fällt ein großer Teil der Nachfrage am Kapitalmarkt weg, und die Zinsen sinken. Statt also mit dem Finger auf Mario Draghi und die Europäische Zentralbank zu zeigen, sollten die Regierungen in Europa mit neuen Schulden, allerdings nur für Investitionen, das Zinsniveau stabilisieren.“
Die strikte deutsche Sparpolitik gefährdet die Stabilität in Europa
Der Volkswirt schätzt die strikte Sparpolitik als gefährlich für die Stabilität in Europa ein. Deutschland habe 2016 einen Überschussrekord in der Leistungsbilanz erzielt, das heißt: Deutschland hat im Verhältnis zu den Importen noch nie so viel exportiert wie derzeit. „Umgekehrt verschulden sich die Länder der Eurozone weiter massiv bei uns, um unsere Waren und Dienstleistungen importieren zu können – insbesondere die Staaten im Mittelmeerraum. Gleichzeitig führt die von Deutschland diktierte Sparpolitik dort zu gesellschaftlichen Verwerfungen und würgt Konjunkturerholungen und das Wirtschaftswachstum ab.“
Deshalb müsse die Nachfrage in Deutschland gestärkt werden, damit Waren und Dienstleistungen aus den anderen Ländern der Eurozone und Staaten mit großen Leistungsbilanzdefiziten, wie den USA, hierzulande verstärkt konsumiert und investiert werden. Auf diese Weise könne der exorbitante Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands abgebaut werden. Dazu, sagt der Professor, müsse die Sparpolitik der öffentlichen Haushalte, vor allem in Deutschland, aber auch in der gesamten Europäischen Union, überdacht werden. „Der Bundesfinanzminister würde dem zurzeit äußerst gefährdeten europäischen Integrationsprozess einen großen Dienst erweisen, wenn er daran mitarbeiten würde, auch durch höhere Staatsverschuldung in Deutschland den deutschen Leistungsbilanzüberschuss abzubauen. Die schwarze Null jedenfalls ist ein Muster ohne Wert.“