Türkei unter Erdogan: Wenn Peter Steudtner Terrorist ist, sind wir alle welche
Die Bundesrepublik streitet mit der Türkei um Menschenrechte, Demokratie und Verhaftungen. Und die Weltpolitik erreicht Kiez, Gemeinde - und Familie.
Ganz am Ende, wenn die Mächtigen ihren Zug gemacht haben, wenn sie beschlossen und gedroht haben, wenn dann die Welt wieder einmal eine andere geworden ist, wird große Politik manchmal ganz klein. So war es in der Nacht zu Freitag. Ein Jazzclub im Kellergeschoss in Berlin Mitte. Das Licht ist schon gedimmt, die Band spielt noch nicht. Da setzt sich eine Frau an einen der runden Tische. Sie spielen für ihren Sohn heute Abend. Für Peter Steudtner, jenen Menschenrechtler, der Anfang Juli auf der Istanbuler Prinzeninsel Büyükada unter dem Vorwand des Terrorverdachts festgenommen wurde. Den kaum jemand kannte und dessen Name jetzt in Wikipedia verewigt ist.
Schon seit Monaten sind Deutsche wie der Journalist Deniz Yücel in der Türkei ohne Beweise, ohne Anklage inhaftiert, ist klar, dass der einstige Partner zu einem Staat des Unrechts geworden ist. Doch erst der Fall Steudtner hat den Außenminister aus dem Urlaub gerufen, hat die zumindest rhetorische Wende eingeleitet im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei. Und plötzlich trauen sich alle.
Steudtner ist einer der wenigen Trümpfe, die Erdogan noch hält
Der Europäer Wolfgang Schäuble, der zur Situation in der Türkei sagt: „Das erinnert mich daran, wie es früher in der DDR war.“ Der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sagt endlich öffentlich: „Wir betrachten die Türkei ... in Deutschland auch als Gegner.“ Justizminister Heiko Maas sagt: „Wer in die Türkei reist, verbringt seinen Urlaub leider nicht in einem Rechtsstaat.“ Man werde „zu jedem Zeitpunkt prüfen, ob weitere Beschlüsse notwendig sind“, sagt Kanzleramtsminister Peter Altmaier, was im Geiste der Merkel’schen Zurückhaltung wohl als Drohung verstanden werden muss.
Das SPD-geführte Wirtschaftsministerium hat schon angekündigt, die Rüstungsexporte überprüfen zu wollen. Das Auswärtige Amt warnt – diplomatisch verbrämt – deutsche Urlauber vor Reisen in die Türkei und Investoren vor Geschäften. Präsident Recep Tayyip Erdogan ist beleidigt, enttäuscht von Deutschland, von der Nato, die ihm beide weder in seinem Kampf gegen die Kurden beistehen wollen noch ihm die vermeintlichen Putschisten ausliefern, die er so gern gegen die deutschen Häftlinge austauschen würde, damit er sich an ihnen rächen kann. Die Eskalation hat gerade erst begonnen. Peter Steudtner und die anderen ausländischen Gefangenen sind die wenigen Trümpfe, die Erdogan in diesem Machtkampf noch bleiben.
Die Mutter, Frauke Steudtner, ist mitten hineingeworfen worden in diesen geopolitischen Machtkampf. Im Jazzclub in Berlin wird die Band gleich „Oh Freedom“, eine der Hymnen der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung spielen. Sie nimmt ihre Kraft zusammen für einen Satz, der ist ihr wichtig. „Heute ist die ganze Absurdität ...“, sagt sie und stockt. „... diese ganze Lage.“ Dann weint sie.
Herrgott! Erdogan, Sanktionen, EU-Beitrittsverhandlungen, die Nato, der Putsch, die Gewalt – was hat das mit ihm zu tun, mit ihr? Nichts. Alles.
Der Fall Steudtner zeigt, dass der Konflikt alle angeht. Zu dem Schluss muss kommen, wer sich mit Menschen unterhält, die Peter Steudtner seit Langem kennen. Wenn er ein Terrorist ist, dann sind wir alle welche. In der Türkei scheint man das wirklich zu glauben. Auf einer Liste stehen deutschen Sicherheitskreisen zufolge fast 700 Unternehmen, die das Land verdächtige, terroristische Organisationen zu unterstützen. Darunter eine Dönerbude. Wer also ist der Mann, den Erdogan als Geisel hält?
Steudtner half Kindersoldaten neuen Lebensmut zu fassen
Peter Steudtner, 45 Jahre alt, ist in Berlin geboren, zu Hause in Prenzlauer Berg, ein besonnener Mann, der es immer wieder schafft, seine tiefe Traurigkeit zu überwinden, einer, der geboren wurde „um zu fühlen“, sagt sein Freund Albrecht Gündel- vom-Hofe, der das Jazzkonzert für ihn spielt. Auch das zu fühlen, was schwer auszuhalten ist. Seit Jahren ist er in der Friedensarbeit engagiert. War für verschiedenen Organisationen in Kenia, Nepal, Israel oder Mosambik. Mit der Türkei hatte er nie viel zu tun, war nur auf Einladung türkischer Menschenrechtler da, um ein Seminar über gewaltfreie Konfliktlösung zu geben. Steudtner spricht fließend portugiesisch, half Kindersoldaten in Mosambik, wieder neuen Lebensmut zu finden. Seinen eigenen Lebensmut, hoffen Freunde, schöpft Peter Steudtner jetzt aus seinem Glauben.
In der evangelischen Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg hat Steudtner seine Gemeinde. Pfarrer Christian Zeiske kennt ihn gut, seit 17 Jahren, hat den älteren seiner beiden Söhne getauft. In der Gemeinde ist Steudtner für die Kinder- und Jugendarbeit zuständig, ein Lebensthema. Für die große Show sei er nie zu haben. Aber wenn seinen Kids danach ist, eine Spielstraße zu besetzen und da in einer Pfanne Kartoffeln zu braten und zu essen, dann macht er das. Konventionen sind ihm nicht so wichtig. „Er ist ein Mann, der die Bergpredigt lebt“, sagt Zeiske. Das ist nicht nur ein Kompliment. Steudtner, studierter Politologe und trainierter Mediator, halte manchmal bei Konflikten so lange noch die andere Wange hin, dass man ihm zurufen wolle, Mensch, Peter, man muss doch auch mal sagen, wann Schluss ist!
Wie wohl einer wie Steudtner mit einem wie Erdogan umspringen würde?
Vom Vorgehen der Bundesregierung jedenfalls ist Erdogan bisher wenig beeindruckt. Die Drohungen aus Deutschland schüchterten ihn nicht ein, verkündete er großspurig. Derweil sitzt Steudtner weiter gemeinsam mit seinem Kollegen Ali Gharavi in einer Zelle. Es gehe ihm so weit gut, erfährt man aus Kreisen der Familie. Einmal am Tag werde er ärztlich untersucht. Nur Anwälte und seine Lebensgefährtin Magdalena Freudenschuss durften direkt mit ihm sprechen. „Es fehlt jemand. Es fehlt ein Vater, der vorliest, es fehlt jemand, der zum Reden da ist, der zuhört, der mit uns lacht“, hatte sie nach seiner Verhaftung gesagt. Jetzt äußert sie sich nicht mehr gern öffentlich. Die Familie hat Angst.
"Dieses Unrecht darf nicht weitergehen"
In der Gethsemanekirche hat Pfarrer Zeiske am Donnerstagabend eine Fürbitte organisiert. Im Altarraum brennt eine einzelne Kerze, rund 70 Gemeindemitglieder sind gekommen, auch viele, die lange nicht mehr da waren. „Um Frieden und Freiheit und Hoffnung bitten wir“, singen sie. Für Peter „und die anderen Menschenrechtsverteidiger.“ Dann, als alle fertig sind, tritt noch ein Mann nach vorne. Wolfgang Templin, DDR-Bürgerrechtler, Gründer der Initiative Frieden und Menschenrechte, steht wieder in dieser Gethsemanekirche, die während der friedlichen Revolution Sammelpunkt für Oppositionelle war, und ruft, dass er herkommen musste, als er von Steudtners Fall hörte und „dass dieses Unrecht nicht weitergehen darf!“
Zeiske sagt, dass die Gemeinde auch überlegt hatte, auf die Parallele zur DDR hinzuweisen. Sie haben es dann nicht gemacht. Da ist ja keine, es ist ja alles ganz anders als damals. Im großen Ganzen.
Im Kleinen, im Jazzkeller, wo Frauke Steudtner ihre Tränen trocknet, bemerkt man den Unterschied nicht.