Deutsch-türkische Beziehungen: Was folgt aus der Neuausrichtung der Türkei-Politik?
Der Kurswechsel der Bundesregierung gegenüber Ankara wird sich auch auf die Wirtschaft auswirken. Möglich wäre eine Einfrieren der Gespräche über die Zollunion mit der EU.
Die Bundesregierung hat ihren Kurs gegenüber Ankara verschärft. Die angekündigte Neuausrichtung der deutsch-türkischen Beziehungen zielt bisher auf Tourismus und Wirtschaft. Ankara versichert prompt, Investitionen seien sicher.
Wird die Türkei mit Gegenschlägen auf die „Neuausrichtung“ antworten?
Das zumindest erwartet Hans-Georg Fleck, Leiter des Istanbuler Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung. „Jede Reaktion aus Berlin provoziert auch eine weitere Aktion aus Ankara, damit muss man rechnen“, sagt er. Wenn es tatsächlich neue Einschränkungen für Deutsche in der Türkei geben sollte, dann dürften diese am ehesten Institutionen treffen wie politische Stiftungen, das Goethe-Institut oder wissenschaftliche Einrichtungen. „Aus türkischer Sicht sind da die Kollateralschäden am geringsten“, meint Fleck: „Dass deutsche Wirtschaftsvertreter verhaftet werden, halte ich für sehr unwahrscheinlich.“
Hat die Bundesregierung noch weitere Eskalationsmöglichkeiten?
Darauf hat Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) deutlich hingewiesen. „Wir werden zu jedem Zeitpunkt prüfen, ob weitere Beschlüsse notwendig sind. Und die werden wir dann gegebenenfalls auch öffentlich verkünden“, sagte er im ZDF. Auch SPD-Außenpolitiker Niels Annen sagte dem Tagesspiegel: „Es gibt eine Reihe von weiteren Instrumenten, die man scharf stellen kann.“ Im Auswärtigen Amt, im Finanz- und im Wirtschaftsministerium prüfen Experten, welche Schritte möglich sind. Gabriel hatte angekündigt, auch Investitionskredite europäischer Entwicklungsbanken würden nun unter die Lupe genommen.
Ein wirksames Instrument wäre laut Naumann-Vertreter Fleck das Einfrieren der Gespräche über die Zollunion mit der EU. Denn an deren Zustandekommen habe die Türkei aus wirtschaftlichen Gründen ein massives Interesse. „Wenn man diese Folterinstrumente nicht auspackt, wird die Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik verpuffen“, warnt der Stiftungsvertreter: „Nur diplomatische Töne versteht Erdogan nicht.“ Allerdings hat sich die Bundesregierung noch nicht auf ein Ende der Zollunion verständigt. Bisher verlangt das nur die SPD.
Tragen Deutschlands Partner in der EU und Nato die harte Linie mit?
Wirksam wäre vor allem eine gemeinsame Linie der EU, doch die gibt es noch nicht. „Viele EU-Länder halten sich zurück, weil sie anders als Deutschland keine drei Millionen Menschen aus der Türkei beherbergen“, sagt Türkei-Experte Fleck. Die Chance für eine gemeinsame harte Linie sei gegeben, weil viele EU-Länder eigene Probleme mit der Türkei hätten. Die Bundesregierung hofft, dass EU-Vertreter wie die Außenbeauftragte Federica Mogherini klare Botschaften an die Türkei senden, wenn sie sich am kommenden Dienstag in Brüssel mit türkischen Ministern trifft.
Mit der Unterstützung der Nato im Streit um das Besuchsrecht von Bundestagsabgeordneten bei deutschen Soldaten auf Stützpunkten in der Türkei ist Berlin bislang nicht zufrieden. „Ich erwarte, dass es von der Nato eine klare Ansage gibt“, sagt SPD-Außenpolitiker Annen. Auch aus der Union sind solche Aufforderungen zu hören. Doch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg setzt offenbar noch darauf, dass die beiden Nato-Staaten ihren Streit untereinander lösen und will vermeiden, Partei zu ergreifen.
Werden weiter deutsche Waffen in die Türkei geliefert?
Einen generellen Stopp für Rüstungsexporte in das Nato-Partnerland gibt es nicht, alle Lieferungen sollen aber streng geprüft werden. Bei den Entscheidungen werde der aktuellen Lage und besonders der Beachtung der Menschenrechte ein „besonderes Gewicht“ beigemessen, sagt das Wirtschaftsministerium. Die Bundesregierung erteile bereits seit dem Putschversuch vom Juli 2016 Genehmigungen für die Türkei „erst nach sehr differenzierter und sorgfältiger Einzelfallprüfung“. Seit 2016 hat die Bundesregierung elf türkische Anträge abgelehnt. Die SPD hatte nach Informationen des Tagesspiegels schon vor Wochen und damit vor der Verhaftung des Menschenrechtlers Peter Steudtner im Bundessicherheitsrat ihr Veto gegen weitere Exporte eingelegt.
Was passiert, wenn die Türkei die Flüchtlingsvereinbarung aufkündigen würde?
Die Türkei erweckt den Eindruck, dass sie die Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa steuern kann. Mehrfach drohte Staatschef Erdogan, die Tür für Flüchtlinge wieder zu öffnen, sprich die Überwachung der türkischen Küsten herunterzufahren und Flüchtlingsboote nicht aufzuhalten. So wie es das Land vor dem Abkommen mit der EU gehalten hatte. Seit die Küsten streng überwacht werden, kommen hingegen kaum noch Boote durch. Ob sich tatsächlich erneut Hunderttausende aus der Türkei auf den Weg machen würden, ist allerdings zweifelhaft. Abby Dwommoh von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) berichtet, dass die meisten Flüchtlinge in der Türkei kaum noch über Ersparnisse verfügen. Für eine Weiterreise samt Schlepperkosten fehlt ihnen wohl das Geld. Die Situation von Flüchtlingen in Griechenland und die nur noch schwer zu überwindenden Grenzen entlang der Balkanroute schreckten zusätzlich ab, heißt es von anderen Helfern. „Viele haben den Traum Europa aufgegeben“, sagt Abby Dwommoh.
Wie abhängig ist die Türkei vom Flüchtlingsdeal?
Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei für 2016 und 2017 zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zugesagt. Bis Juni waren davon zwar erst 811 Millionen Euro ausgezahlt, es sind jedoch insgesamt 48 Projekte in Höhe von 1,6 Milliarden Euro vertraglich fest vereinbart. Finanziert werden mit der EU-Hilfe unter anderem Unterhaltsleistungen für Flüchtlinge, die nicht in Camps leben, Schulprogramme und Gesundheitsprogramme. Für die Türkei ist das enorm wichtig, denn allein kann sie die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land kaum versorgen. Die Kooperation mit der EU ist daher für Ankara eine feste und verlässliche Größe, auf die sie nur schwer verzichten kann. Türkei-Experte Fleck rechnet denn auch nicht damit, dass Ankara das Flüchtingsabkommen aufkündigt. „Ich sehe hier kein echtes Drohpotenzial“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die türkische Seite ist sehr daran interessiert, dass die EU die versprochenen Milliardenzahlungen überweist und wird das Abkommen von sich aus nicht gefährden.“