Klimaschutz in Deutschland: Wenn neue Windräder an Springfröschen scheitern
Klimaneutralität bis 2045 geht nur, wenn neue Windkraftanlagen gebaut werden. Doch der Ausbau stockt, auch wegen des Naturschutzes. Wo sollen die Windräder hin?
In der 10.000-Einwohner-Stadt Weingarten nördlich von Karlsruhe spielt sich ein Streit ab, der sinnbildlich steht für die Probleme des wichtigsten deutschen Klimaschutzvorhabens – der Energiewende. Mit 76,7 Hektar hat die Gemeinde die größten windreichen Flächen in der Region.
Teils sind es Ackerflächen in privater Hand, teils Flächen im Wald „Hinterer Heuberg“, die der Gemeinde gehören. Doch der Gemeinderat hat sich mit 10 zu 9 Stimmen dagegen ausgesprochen, Windräder in dem Wald zuzulassen: Also auf einer Teilfläche, wo eigentlich viel Windenergie entstehen könnte.
Auch der Bürgermeister von Weingarten, Eric Bänziger, hat gegen den Bau von Windkraftanlagen im Forst gestimmt. „Eine der vermutlich größten Springfroschpopulationen Baden-Württembergs lebt im Wald Hinterer Heuberg“, sagt der Parteilose am Telefon. „Ein Gutachten unseres Nachbarschaftsverbandes hat den Wald daher aus Naturschutzgründen nicht als Vorrangfläche für die Windkraft ausgewiesen.“
Der Karlsruher Energiekonzern EnBW will weiterhin fünf Windkraftanlagen in Weingarten errichten – und hat dafür auch das Waldgebiet eingeplant, das im Teil-Flächennutzungsplan verzeichnet ist. Ohne das Waldgebiet passen immer noch vier Windkraftanlagen auf die Fläche, schätzt Bänziger.
So oder ähnlich läuft es häufig beim Ausbau der erneuerbaren Energien – Anwohner:innen stemmen sich gegen die Errichtung von Windkraftanlagen, Klagen gegen Bebauungspläne häufen sich. Wie in Weingarten trifft Naturschutz auf Klimaschutz – und am Ende gerät das Energieprojekt ins Stocken oder scheitert gänzlich, weil rechtssichere Flächen für Windräder fehlen.
Dabei halten knapp 80 Prozent der Bevölkerung den Ausbau Windenergie an Land für wichtig oder sehr wichtig, wie eine Forsa-Umfrage zeigt. Gleich nach der Pandemie sehen Befragte die Klimakrise als das wichtigste Problem in Deutschland, geht aus dem Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen hervor.
Wie steht es um den Ausbau der Windenergie an Land?
Für das laufende Jahr kommen voraussichtlich nur 2,2 bis 2,5 Gigawatt Windenergie an Land („Onshore“) hinzu, wie Branchenzahlen zeigen. Bei einer Leistung von jeweils 3,5 Megawatt würde das etwa 670 neuen Windenergieanlagen entsprechen. Das ist nur etwa halb so viel neue Leistung wie jährlich nötig wäre, um Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Im Jahr 2017 betrug der Nettozubau neuer Windenergieleistung an Land noch etwa 4,9 Gigawatt.
Doch seitdem dümpelt der Ausbau vor sich hin. Damit droht das wichtigste nationale Klimaschutzvorhaben zu scheitern, denn der hiesige Energiesektor verantwortete im vergangenen Jahr knapp 30 Prozent aller Treibhausgasemissionen, oder 221 Millionen Tonnen CO2. Eines der größten Probleme beim Ausbau der Onshore-Windkraft ist, dass zu wenig Flächen zur Verfügung stehen – neben vielen Klagen durch Bürger:innen, rigiden Abstandsregeln und langen Genehmigungsverfahren.
Wie viel Fläche steht bereits zur Verfügung?
Bis Ende 2017 waren rund 3.100 Quadratkilometer für die Windkraft an Land ausgewiesen, heißt es in der jüngsten Analyse des Umweltbundesamtes (UBA) dazu. Das entspricht 0,9 Prozent der bundesweiten Flächen. Zur selben Zeit waren allerdings mehr als 40 Prozent dieser ausgewiesenen Flächen noch nicht mit Windkraftanlagen bebaut.
„Nur weil die Planungsbehörden Flächen für die Windkraft ausweisen, heißt das noch lange nicht, dass die Unternehmen die Flächen auch mit Windrädern bebauen können“, sagt die Co-Autorin der UBA-Analyse Corinna Klessmann.
Sie ist ebenfalls Energieexpertin beim Beratungsunternehmen Guidehouse. „Die Projektentwickler müssen herausfinden, ob es seltene Vogelarten in der Region gibt. Erst dann ist überhaupt klar, ob die Flächen nutzbar sind.“ Pauschale Siedlungsabstände wie in einigen Bundesländern führten dazu, dass die ausgewiesenen Flächen nachträglich reduziert oder von vorneherein weniger Flächen ausgewiesen werden.
Die UBA-Analyse hat verglichen, welchen Beitrag die Bundesländer bei der Ausweisung von Windflächen leisten. Die Studie macht große Unterschiede deutlich: Hessen, Brandenburg, Schleswig-Holstein und das Saarland haben etwa 2 Prozent ihrer Landesfläche für die Windkraft ausgewiesen. Am schlechtesten bei den Flächenländern schneiden dagegen Bayern (0,1 Prozent), Sachsen (0,2 Prozent) und Thüringen (0,6 Prozent) ab.
Wie viel Fläche braucht es für den Ausbau der Windkraft an Land?
„Grundsätzlich gilt: Wenn Deutschland klimaneutral werden will, muss ein Großteil der dafür geeigneten Flächen mit Windenergieanlagen bebaut werden“, sagt Klessmann. Wie viel Fläche genau für den Windkraftausbau benötigt wird, lässt sich laut Klessmann noch nicht auf den Quadratkilometer genau beantworten.
Das habe mehrere Gründe: „Es hängt davon ab, an welchen Standorten die Windkraftanlagen stehen, von welchem Stromverbrauch wir zukünftig ausgehen und wie viel davon aus Windkraft gedeckt werden kann.“ Die Bundesregierung strebt bis 2030 ein Ausbauziel von 71 Gigawatt installierter Onshore-Windkraft an. Ende 2020 belief sich die installierte Leistung der Onshore-Windkraft auf knapp 55 Gigawatt, wie Branchenzahlen zeigen.
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Expert:innen und Analyst:innen sind sich jedoch weitgehend einig, dass für das Jahr 2030 von einem Stromverbrauch um 650 Terawattstunden (TWh) auszugehen ist. Das ist etwa 25 Prozent mehr Strom als Deutschland im Jahr 2019 verbraucht hat. Der Strombedarf erhöht sich vor allem deshalb, weil voraussichtlich immer mehr Menschen Elektroautos fahren, ihre Wohnungen mit Wärmepumpen heizen und Ökostrom beziehen werden.
Gleichzeitig werden Diesel, Heizöl und Kohlestrom aus Klimaschutzgründen immer seltener zum Einsatz kommen. Auch deshalb wird der Flächenbedarf für die Windkraft an Land steigen.
Sind Flächenziele für den Ausbau der Windkraft sinnvoll?
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hält 2 Prozent der deutschen Flächen für den Windkraftausbau notwendig, ebenso wie die Stiftung Klimaneutralität.
Carsten Pape, Forscher am Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE), sagt dazu: „Mit Blick auf Energie- und Klimaszenarien sind 2 Prozent als Flächenziel sicherlich eine sinnvolle Einschätzung.“ Pape geht davon aus, dass die Behörden letztlich nicht nur 2 Prozent der Flächen ausweisen müssten, sondern für die Erreichung der Klimaschutzziele diese auch vollständig mit Windenergieanlagen bebauen lassen müssten.
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Die Energieexpertin Klessmann sagt zu Flächenzielen: „Die Bundesregierung hat bereits ein Ausbauziel für die Windkraft an Land – da wäre es gut, wenn es auch solche Flächenziele gibt und die Bundesländer sich daran orientieren.“ Denn zurzeit seien Flächen für die Windkraft an Land knapp. „Wenn der Ausbau schneller gehen soll, braucht es insgesamt deutlich mehr ausgewiesene Flächen. Denn auch auf ausgewiesenen Flächen lassen sich nur teilweise Windenergieanlagen errichten.“
Allerdings seien hier vor allem Flächenländer wie Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Bayern gefragt, weil in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen kaum Platz für Windkraft ist.
Könnte der Flächenbedarf an Land geringer ausfallen, wenn stattdessen mehr Windenergie auf See zugebaut wird?
„Wenn die Bundesregierung mehr Windenergie auf See bauen lassen würde, statt an Land, würde sie das Problem nur verschieben“, sagt der Energieexperte Pape vom Fraunhofer IEE in Kassel. „Dann bräuchte es von Nord nach Süd umso mehr Stromtrassen, deren Bau teilweise auf noch weniger Akzeptanz stößt als neue Windräder.“
In Klima- und Energieszenarien werde außerdem bereits damit gerechnet, das Potenzial bei der Offshore-Windkraft weitgehend auszuschöpfen und irgendwann an eine Grenze zu stoßen. „Man kann also nicht einfach mehr Offshore-Windkraft statt Onshore-Windkraft zubauen, um weniger Fläche an Land zu beanspruchen.“
Kann der Ersatz alter Windräder durch leistungsstärkere Anlagen den Flächenbedarf an Land verringern?
„Erstmal brauchen wir in Zukunft mehr installierte Windkraftleistung“, sagt Pape. „Mit jedem zusätzlichen Gigawatt erhöht sich der Flächenbedarf.“ Zwar könnten neue Anlagen auf gleicher Fläche mehr Energie produzieren, weil zum Beispiel die höheren Türme windreichere Luftschichten erschließen.
Aber modernere und leistungsstärkere Anlagen als Ersatz reichten bei weitem nicht, um den steigenden Bedarf an klimaneutral erzeugtem Windstrom zu decken, erklärt Pape. „Insgesamt ist Repowering – also der Ersatz alter Windräder durch neue Anlagen – ein wichtiger Baustein für den Ausbau der Windenergie, reicht aber allein nicht aus.“
Welche Bundesländer treten beim Ausbau der Windkraft auf die Bremse?
In Bayern gilt seit 2014 die sogenannte 10H-Regelung, nach der ein Windrad eine zehnmal so große Entfernung zu Wohnhäusern haben muss wie das Windrad hoch ist. Faktisch führt das dazu, dass zwischen Windrädern und Wohnhäusern häufig ein Abstand von 2.000 Metern einzuhalten ist.
Damit hat das größte Bundesland Bayern die potenziellen Windflächen auf 45,5 Quadratkilometer geschrumpft – also auf unter 0,1 Prozent Landesfläche. Seit der Einführung der 10H-Regelung ist der Zubau massiv eingebrochen. Im vergangenen Jahr kamen gerade einmal acht neue Windräder in dem von CSU und Freien Wählern regierten Freistaat hinzu. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält auch weiterhin an der 10H-Regelung fest.
In Nordrhein-Westfalen hat die schwarz-gelbe Landesregierung unter Armin Laschet (CDU) im vergangenen April beschlossen, dass Windenergieanlagen einen pauschalen Mindestabstand von 1000 Metern zu Wohngebäuden einhalten müssen. Nur auf ausdrücklichen Wunsch können Kommunen in NRW beschließen, diese Tausend-Meter-Regel auszusetzen. Damit werden die dringend benötigten Flächen für die Windkraft weiter verknappt.
Auch die schwarz-grün-rote Landesregierung in Sachsen unter Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) will noch in diesem Jahr einen pauschalen Mindestabstand von 1000 Metern zu Wohngebieten beschließen. Dabei hat das Bundesland bislang nur 0,2 Prozent seiner Flächen für die Windkraft ausgewiesen.
Pauschale Mindestabstände bremsen Windkraftausbau
In Thüringen dürfen seit Ende 2020 keine neuen Windräder in Wäldern gebaut werden. Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow (Linke) hat einem entsprechenden Bauverbot auf Drängen von FDP und CDU im Landtag zugestimmt.
Die CDU hatte ihre Zustimmung zum Landeshaushalt im Vorfeld davon abhängig gemacht, dass die Koalitionsparteien ein Verbot neuer Windkraftanlagen in Thüringer Wäldern abnicken. Thüringen hat sich in einem Klimagesetz das Ziel auferlegt, auf einem Prozent der Landesfläche Windenergieanlagen zu errichten.
„Da muss man ganz nüchtern feststellen: Keines dieser Bundesländer ist Vorreiter, was die Ausweisung von Flächen für die Windkraft angeht“, sagt die Energieexpertin Corinna Klessmann.
Der Bürgermeister von Weingarten ist jedenfalls skeptisch, ob bundesweit zwei Prozent aller Flächen für die Windkraft zusammenkommen. „Die geeigneten Windflächen in Weingarten sind nicht so groß wie 2 Prozent des Nachbarschaftsverbandes“, sagt Eric Bänziger. „Wir in Weingarten stehen hinter der Windenergie.“
Aber die Ruhezonen seien dünn gesät, und das Landschaftsbild auf den Wanderwegen sei für viele Menschen sehr wichtig. „Deshalb können wir auch den Nachbargemeinden nicht unendlich viele Windräder vor die Nase stellen.“