Jerusalem: Wem gehört die heilige Stadt?
Weihnachten? Intifada? Von beidem ist wenig zu sehen in Jerusalem. Es herrscht der üblich angespannte Alltag auf dem einen umstrittenen Quadratkilometer Altstadt, der Christen, Juden und Muslimen so heilig ist.
Zwischen buntem Lametta, Plastiktannen und kniehohen Krippenfiguren aus China sitzen Samir Kouteina und Yousef Dissi auf weißen Plastikhockern und warten auf Kundschaft. Aber irgendwie auch auf eine Lösung des ewigen Jerusalem-Streits. Samir Kouteina, ein 60 Jahre alter Muslim, hat diesen Laden mit Weihnachtsdekoration in der St.-Francis-Straße in der Altstadt vor 35 Jahren eröffnet, als eines der wenigen Geschäfte dieser Art in Jerusalem überhaupt. Damals klang das nach einer gewinnbringenden Idee für die Zeit zwischen November und Januar. Doch das Geschäft läuft heute schlecht. Die Zahl der Christen im Land geht zurück: Bei der Gründung des Staates Israel waren zehn Prozent der Bevölkerung christlichen Glaubens, heute sind es nur noch zwei Prozent. Harte Zeiten für Verkäufer von Weihnachtsdeko, Kouteina zündet sich erst einmal eine Zigarette an, zieht, lässt sie dann im Aschenbecher liegen.
Vor allem ältere Palästinenser sind nicht mehr bereit, zu kämpfen
Yousef Dissi sitzt mit verschränkten Armen und einem Lächeln daneben, die Beine unter den Hocker gezogen, der Rücken leicht buckelig, als habe sich der 70-Jährige von hier schon länger nicht mehr wegbewegt. „Wir haben doch alles versucht. Menschen sind gestorben. Gebracht hat es nichts“, erinnert er an die beiden Intifadas, die Aufstände der Palästinenser. Und was jetzt? Wird es jemals eine Lösung geben? Yousef Dissi zuckt mit den Schultern. Wie viele hier weiß er nicht so recht weiter.
Erst recht jetzt, da US-Präsident Donald Trump Anfang des Monats Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt und damit den Nahen Osten noch einmal so richtig aufgewirbelt hat. Auf israelischer Seite war der Jubel groß, zumindest innerhalb der Regierung und in konservativen, nationalreligiösen Kreisen. Aus Gaza hingegen fliegen seither vermehrt Raketen auf Israel, die israelische Armee greift im Gegenzug Hamas-Stellungen an. Auch Steine und Molotowcocktails fliegen nun von palästinensischer Seite, vor allem im Westjordanland und im Gazastreifen an der Grenze zu Israel. Israelische Sicherheitsbeamte reagieren mit Tränengas und Gummigeschossen, mindestens acht Menschen kamen bislang ums Leben. Junge Männer, auch einige Kinder sind es, die mitwerfen. Doch von einem Aufstand der Massen kann keine Rede sein. Viele, vor allem erwachsene und ältere Palästinenser, so scheint es, sind nicht mehr bereit zu kämpfen.
Die Juden sollen weiter an der Klagemauer beten dürfen
Selbst Jerusalem, die Stadt, um die es dabei geht, ist bisher weitestgehend verschont geblieben. Ja, auch hier kam es zu einer Demonstration vor dem Damaskustor, auch hier blieb es nicht immer friedlich. Doch die Ausschreitungen beschränkten sich auf die Zeit nach den Freitagsgebeten. Nichts was diese Stadt nicht schon oft gesehen hätte. Unter der Woche herrscht hier der normale, angespannte Alltag. Wie immer halten schwer bewaffnete Grenzpolizisten an einigen Ecken Stellung. Neu ist das nicht.
Haben die arabischen Jerusalemer aufgegeben? Sind sie enttäuscht? Ratlos? Hoffnungslos? Ein bisschen von allem, sagt Samir Kouteina, ein Mann mit weißen Haaren und Schnauzer, mit Brille und blauem Rollkragenpullover. Dabei seien die Fakten doch ganz klar. „Diese Stadt gehört allen“, sagt er. „Aber ein bisschen mehr gehört sie eben den Palästinensern.“
Yousef Dissi sitzt daneben und grinst. Die Antwort gefällt ihm. Trumps Worte gefielen ihm weniger. Er, ebenfalls ein Muslim, ist in dieser Stadt geboren und aufgewachsen und lebt bis heute im arabischen Osten. Die Stadt ist Muslimen heilig, hier befindet sich der Tempelberg und darauf die Al-Aksa-Moschee, das drittwichtigste Heiligtum des Islam. Wie soll das alles israelisch sein, fragen hier viele. Auch Yousef Dissi sieht Al Quds, wie die Stadt im Arabischen heißt, als Hauptstadt des künftigen Palästinenserstaates. Zumindest den Osten der Stadt, aber auf jeden Fall inklusive der Altstadt. „Die Juden können natürlich weiterhin an der Klagemauer beten“, findet Dissi. „Ich lebe gerne in Frieden mit den Juden. Schau doch“, sagt er und zeigt auf den jungen Mann, der gerade Christbaumkugeln aussucht. Nikita, 20 Jahre alt, ist tatsächlich Jude, eingewandert aus Russland. Das russische Neujahrsfest steht an. „Auch da gehört ein geschmückter Baum dazu“, sagt er. Ansonsten hält er sich aus den Gesprächen der beiden Palästinenser raus.
"Trump tut unserer Reputation in der Welt nicht gut"
Einige Hundert Meter entfernt auf dem Platz vor der Klagemauer im jüdischen Viertel schimpft noch jemand über Trump. „Bullshit“, flucht die 58-jährige Nira, ungeachtet der Heiligkeit dieses Ortes, und meint damit die Entscheidung des US-Präsidenten. Nira ist heute aus dem Zentrum des Landes hierhergekommen an die Klagemauer, das letzte Überbleibsel des zweiten jüdischen Tempels, der 70 nach Christus von den Römern zerstört wurde. Es ist der heiligste Ort für Juden, hier sind sie Gott besonders nahe. Auch für sie ist diese Stadt unglaublich wichtig, bereits 1950 machte Israel sie zur Hauptstadt. Damals galt das nur für den Westen, erst mit der Eroberung des Ostteils im Sechstagekrieg 1967 erklärte Israel ganz Jerusalem zur ewigen, unteilbaren Hauptstadt.
„Klar ist Jerusalem unsere Hauptstadt“, sagt Nira. Sie sei gerne hier, heute ist sie gekommen, weil ihre Familie gerade Besuch aus dem Ausland hat, der will das Heiligtum auch mal gesehen haben. Religiös, sagt Nira, sei sie selbst nicht. Aber klassisch israelisch ist sie, redet frei heraus, ohne Umschweife. Einen wie Trump hätte es für die Anerkennung als Hauptstadt nicht gebraucht. „Trumps Beitrag hat doch überhaupt nichts gebracht, es tut unserer Reputation in der Welt nicht gut“, sagt sie. Tatsächlich ändert die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA de facto erst einmal nichts, auch der Umzug der amerikanischen Botschaft wird noch Jahre auf sich warten lassen. Trump war es vor allen Dingen wichtig, ein Wahlkampfversprechen einzulösen und Symbolpolitik im eigenen Land zu betreiben. Manch einer, wie Israels Premier Benjamin Netanjahu, hofft nun zwar, dass das erst der Anfang war und noch weitere Länder dem Schritt Trumps folgen werden. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Nira glaubt ohnehin, dass der US-Präsident gar nicht Israel mit seiner Entscheidung stärken wollte, sondern andere Ziele verfolgte: „Trump macht es ja nicht für uns, sondern für die Evangelikalen in den USA.“
Das Christentum Jerusalems ist vielfältig wie die Stadt
Über jene christliche Gruppe, die die Heilige Schrift gerne wörtlich nimmt und Trumps Entscheidung als biblische Wahrheit bezeichnet, weiß Pater Nikodemus Schnabel nur wenig Gutes zu sagen. Auf dem Zionsberg südwestlich von der Klagemauer sitzt er hinter dicken Steinmauern in einem Saal der Dormitio-Abtei. 2003 zog er aus Deutschland hierher, wurde Mönch, ließ sich zum Priester weihen. Der große, stämmige, bärtige Mann in der schwarzen Kutte kennt das vielfältige Christentum der Stadt. Mit den Evangelikalen, denen Trump im Wahlkampf den Botschaftsumzug versprochen hat, haben sie hier nichts zu tun. Die restlichen Kirchen in Jerusalem seien sich einig: „Auch wenn wir dafür belächelt werden: Wir sind für ein Jerusalem als Corpus Separatum, als internationalisierte Stadt. Jerusalem hat eine universale Bedeutung, die man nicht nationalistisch kleinkariert verengen darf“, erklärt Schnabel.
Er selbst hat die Auswirkungen von Trumps Rede beim Gang durch die Altstadt schon zu spüren bekommen: Beschimpfungen und Rempeleien nationalreligiöser Juden, die den Mönchen auch vor die Schuhe spucken, hätten nach Trumps Entscheidung zugenommen. Angriffe dieser Art erleben Schnabel und seine Ordensbrüder schon seit einigen Jahren: Eine kleine Gruppe radikaler nationalreligiöser Juden ist überzeugt, dass die Stadt und das Land alleine den Juden gehören und alle anderen hier nichts zu suchen haben. „Nach der Trump-Rede wurde ich förmlich im Minutentakt angespuckt mit den Rufen ,Jerusalem, Jerusalem’. Die Entscheidung Trumps ist Wasser auf die Mühlen der nationalreligiösen Extremisten“, sagt Nikodemus Schnabel. Der Pater bemüht sich, den Hass nicht an sich herankommen zu lassen. „Die Herausforderung für mich ist, gelassen zu bleiben, nicht zu verhärten“, sagt er. „Ich bete oft für die Täter.“
Von Weihnachtsstimmung ist bei strahlend blauem Himmel nichts zu spüren
Ansonsten aber herrscht hier oben auf dem Hügel vor dem Zionstor der Altstadt Alltag. Vor dem Eingang tauschen Bauarbeiter gerade die Bodenplatten aus, Pilgergrüppchen schlendern vorbei auf dem Weg zur Kirche. „Eigentlich sind wir Krisengewinner“, sagt Schnabel. Sobald sich Pilger vor Ausschreitungen in der Altstadt fürchteten, kämen sie lieber hierher. „Sie verweilen dann länger als üblich in der Kirche, der Caféteria, dem Laden.“ Diesmal sei es aber nur an zwei Tagen so gewesen.
Aber auch von Weihnachtsstimmung ist hier kaum etwas zu spüren, die Sonne scheint ganz unwinterlich warm von einem strahlend blauen Himmel. „Der Weihnachtsbaum wird ja erst noch gefällt“, versichert Schnabel. „Das wird dieses Jahr ein alter Nadelbaum, der ziemlich schief gewachsen ist. Wir werden ihn wohl zersägen und neu zusammenschrauben.“ Man darf eben alles nicht so eng sehen in Jerusalem, einer Stadt, in der nur zwei Prozent der Bevölkerung überhaupt christlich sind. „Weihnachten im Heiligen Land wird grundsätzlich überschätzt“, erklärt der Pater. „Es gibt keine Christkindlmärkte, keine Glühweinstände und keine Weihnachtsbeleuchtung. Weihnachten ist ein ganz normaler Arbeitstag.“ Da kann einer wie Trump erst recht keine Feiertagsstimmung kaputtmachen.
Die arabischen Christen spielen in der Berichterstattung kaum eine Rolle
Von den einheimischen, den arabischen Christen, hört man bei all den Jerusalem-Diskussionen selten etwas, in der Berichterstattung über den Konflikt kommen sie kaum vor. Jene Palästinenser, die auf die Straßen gehen und für ihr Al Quds kämpfen, sind weitestgehend jene, die auf dem Tempelberg beten. Die Muslime also. „Von allen drei Religionen haben die Christen mittlerweile leider die geringste emotionale Bindung zu Jerusalem“, sagt Schnabel, der die Entwicklung mit Sorge betrachtet. „Das ist ein schleichender Prozess: Niemand hat so eine hohe Bereitschaft auszuwandern. Das beschäftigt mich sehr.“ Hinzu kommt, dass in Israel die Geburtenrate von Christen deutlich geringer ist als die von Muslimen und Juden. Schnabel befürchtet, dass die christliche Minderheit bald gar keine Rolle mehr spielt. „Jerusalem droht, ein christliches Disneyland zu werden“, sagt er. „Wo es Kirchen und heilige Stätten gibt, aber kein gewachsenes, einheimisches Christentum mehr.“
Einen riesengroßen Plastikbaum haben sie im christlichen Viertel der Altstadt dennoch aufgestellt. Etwas einsam ragt er zwischen den Häuserdächern hervor, ein dunkelgrünes, gleichschenkliges Dreieck, übersäht mit gelben und roten Christbaumkugeln. Ihn erblickt man auf dem Weg zum Damaskustor, dem Eingang zum muslimischen Viertel der Altstadt, dort, wo es an den vergangenen Freitagen zu Protesten kam.
Die Gruppe der Demonstranten ist klein, die Sicherheitskräfte deutlich mehr
Hier hat sich an diesem Nachmittag doch noch eine kleine Gruppe palästinensischer Demonstranten versammelt. Auch Jhada Zughayyar sitzt neben den anderen auf den großen Stufen. Sie trägt eine schwarze Hose und ein Palästinensertuch um den Hals, ihre rotbraunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit 58 Jahren ist sie eine der Älteren, die meisten Demonstranten sind Mitte 20, einige Kinder haben sich dazugesellt. „Es wird eine Intifada geben, aber mit anderen Mitteln. Die sozialen Netzwerke werden eine größere Rolle spielen“, sagt Jhada, mehr will sie nicht verraten.
Doch gerade mal 20 Palästinenser stimmen an diesem Nachmittag hier im Sitzen Schlachtrufe wie „Trump, du wirst schon sehen, Palästina wird frei sein“, „Weg mit Trump, mit den USA und mit Israel“ und „Gott ist groß“ an. Die schwer bewaffneten israelischen Sicherheitsbeamten, die die Lage beobachten, sind deutlich in der Überzahl. An einen echten Volksaufstand jetzt zu Weihnachten kann man auch hier nicht wirklich glauben. An eine echte friedliche Lösung aber auch kaum.