Wetterkatastrophe: Welche Spuren hinterlässt El Niño?
60 Millionen Menschen in 23 Ländern leiden unter den Auswirkungen des bisher stärksten gemessenen El Niños. Obwohl er sich abschwächt, gibt es keine Entwarnung. Der Hunger bleibt noch mindestens ein Jahr.
Es ist ein wie eine Generalprobe für das, was kommen wird, wenn die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts nicht gebremst wird. Der aktuelle El Niño (siehe Kasten) ist der größte je gemessene. Das „Christkind“, wie es peruanische Fischer nennen, hat zwar schon im Dezember 2015 seinen Höhepunkt erreicht. Aber seine Auswirkungen werden noch mindestens ein Jahr lang zu spüren sein. Und sollte auf den El Niño La Niña folgen, was die El-Niño-Vorhersagezentren in den USA und Australien annehmen, dürfte diese Krise bis weit ins Jahr 2018 reichen. „Es ist der neue Normalzustand“, sagt Till Wahnbaeck, der Geschäftsführer der Welthungerhilfe.
Die Vereinten Nationen präsentierten am Freitag ihre Zahlen der aktuellen Krise. Bei einem Sondertreffen des UN-Sozial- und Wirtschaftsausschusses Ecosoc baten die Hilfswerke der UN um mindestens 3,6 Milliarden Dollar, um die schlimmsten Auswirkungen des pazifischen Wetterphänomens zu bewältigen. Damit soll in den 13 Staaten, in denen gut 24 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht sind, zumindest die Versorgung mit Lebensmitteln gewährleistet werden. Insgesamt sind 23 Staaten stark und weitere 14 spürbar von El Niño betroffen. 60 Millionen Menschen leiden unter den Auswirkungen des Wetterphänomens. Auf den pazifischen Inselstaaten, den Philippinen, in Indonesien, am Horn von Afrika, im Süden Afrikas, in der Karibik hat El Niño Dürre gebracht. In Südamerika brachte er Rekordregenfälle und Erdrutsche. Und die pazifischen Inseln haben noch dazu schwere Tropenstürme, Taifune und Zyklone hinter sich.
Es fließt kaum Geld für die El-Niño-Opfer
Die Hilfsorganisationen sind zunehmend verzweifelt. Von den 3,6 Milliarden Dollar, die die UN für die allernötigste Nothilfe brauchen, sind 2,2 Milliarden Dollar noch nicht finanziert. Stephen O’Brien, der Chef der UN-Nothilfe-Koordination OCHA, sagte vor wenigen Tagen in Genf: „Ich stehe hier, um Alarm zu schlagen. Schon wieder.“ Er appellierte dringend an die Geberländer, schnell zu handeln, weil sonst Millionen Menschen in Lebensgefahr gerieten.
Am Freitag betonte Elena Manaenkova, die Vize-Chefin der Welt-Wetter-Organisation (WMO), dass zwar das wissenschaftliche Verständnis der sogenannten Südlichen Oszillation, sie beschreibt die beiden pazifischen Wetterphänomene El Niño und La Niña, stark gewachsen sei. Doch der aktuelle El Niño sei ein „unbekanntes Territorium“. Denn „unser Planet hat sich in Folge des Klimawandels dramatisch verändert. Die Ozeane werden insgesamt wärmer, das arktische Meereis schmilzt sehr schnell.“ Es sei wahrscheinlich, dass der menschengemachte Klimawandel und der El Niño sich gegenseitig beeinflussten und womöglich in einer nie gekannten Weise verstärkten. Der El Niño ist aber, weil es um die Bewältigung von dramatischen Wetterereignissen geht, ein Testfall für die Bewältigung des Klimawandels – und ein Beweis dafür, dass das schwer wird, selbst wenn der Pariser Klimavertrag erfolgreich umgesetzt wird und die globale Erwärmung unter zwei Grad im Vergeich zum Beginn der Industrialisierung bleiben sollte.
Am schwersten hat es Äthiopien und Somalia getroffen. Allein in Äthiopien sind nach Regierungsangaben 10,2 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht. Mehr als zwei Millionen Kinder sind unterernährt. Obwohl es seit März immer mal wieder regnet, oft sturzbachartig, bleibt die Lage dramatisch. Denn „niemand weiß, ob der Regen jetzt wirklich verlässlich kommt“, sagt Elisabeth van den Akker. Sie arbeitet für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) im äthiopischen Tiefland in Afar. Die Bauern im Hochland pflanzen zwar. Aber wenn das alles an Regen war, dürfte kaum etwas wachsen. Und wenn er weiter als Starkregen fällt, könnte das Saatgut einfach weggeschwemmt werden.
Allein in Äthiopien sind zehn Millionen Menschen vom Hunger bedroht
Till Wahnbaeck hat die Welthungerhilfe-Projekte in Afar vor Kurzem besucht und ist ziemlich erschüttert. Überall lägen Skelette oder Kadaver verendeter Tiere. Die Hirten hätten fast alles verloren. Er berichtet von einem Mann, der im vergangenen Jahr noch mehr als 200 Ziegen besessen hat. Jetzt seien noch fünf übrig. Und die seien so unterernährt, dass sie schon lange keine Milch mehr geben. In Afar sei kein Gras mehr für die Tiere zu finden. Wahnbaeck findet dies besonders bitter, weil „die äthiopische Regierung gut vorbereitet war“. Aus früheren Hungerkrisen habe man gelernt. In Äthiopien sind jedes Jahr zwischen den Ernten mehr als zwei Millionen Menschen für einige Monate auf Nahrungsmittelhilfe oder andere Sozialleistungen angewiesen. Dieses Rettungsnetz „hat auch jetzt Hungertote verhindert“, berichtet er. Aber jetzt seien die Mittel aufgebraucht. Das Dilemma: Da es noch keine bedrückenden Totenzahlen gibt und auch noch keine Bilder hungriger Kinder, fließen kaum Spenden. „Die Gleichzeitigkeit so vieler Krisen überfordert alle“, stellt Wahnbaeck fest.
Im Süden Afrikas hungern 14 Millionen Menschen
Diese Erfahrung hat auch Roland Angerer von der Kinderhilfsorganisation Plan International gemacht. Er leitet die Afrika-Programme von Nairobi aus. Neben Ost-Afrika macht ihm vor allem der Süden Afrikas Sorgen. Dort sind nach UN-Angaben vor allem in Malawi, Simbabwe, Lesotho, Swaziland, aber auch in den umliegenden größeren Ländern wie Südafrika, Mosambik und Angola etwa 14 Millionen Menschen akut gefährdet. Im Süden Afrikas kommt dazu, dass der Regen jetzt gar nichts nützt. Dort beginnt der Winter. Die nächste mögliche Ernte liegt Monate entfernt. Trotzdem verteilt Plan International derzeit „Saatgut für eine zweite Aussaat“. In Malawi, Simbabwe und Mosambik sind die Preise für Grundnahrungsmittel um bis zu 100 Prozent gestiegen, berichtet Angerer. „Das können sich viele nicht mehr leisten.“ Auch er betont, dass Äthiopien „die regulären Dürreperioden im Griff hat“. Aber der El Niño überfordere alle. Plan hat seine Kinderpaten um Hilfe gebeten. „Sie sind in der Krise unsere loyalsten Spender“, sagt Angerer.
Die Trockenheit überleben
Elisabeth van den Akker soll in Afar versuchen, Dürren in den Griff zu bekommen. Nach der dramatischen Hungerkrise 2011 hat die äthiopische Regierung sich darauf eingelassen, die Nomaden vorläufig nicht mehr umzuerziehen und zwangsweise sesshaft zu machen. Die GIZ hat vor gut zwei Jahren vom deutschen Entwicklungsministerium den Auftrag bekommen, Wege zu finden, damit die Viehhirten und ihre Herden die Trockenheit überstehen. Van den Akker berichtet von einer Technik, die schon in der Sahelzone erfolgreich war. In den ausgetrockneten Flussbetten werden wasserverteilende Schwellen gebaut. Von dort ausgehend werden Mauern in die Ebene gezogen. Als es vor Kurzem im Hochland regnete und eine Sturzflut durch diese trockenen Flusstäler schoss, bewährte sich das Verfahren, berichtet sie. Die Flut wird durch die Schwellen gebrochen und fließt entlang der Mauern in die Ebene, wo es versickert. Damit der Grundwasserspiegel wieder steige, brauche es allerdings noch viel mehr Regen, sagt sie.
Bäume hegen in Somaliland
Die christliche Hilfsorganisation World Vision versucht ebenfalls, die Widerstandskraft der Menschen in den Trockenregionen zu stärken. In Somaliland sei der Regen 2015 ganz ausgeblieben, sagt Kevin Macay von World Vision. Aber die Somaliländer haben ihr Klima auch selbst ruiniert: Überweidung und Bevölkerungswachstum führten zu einer schnellen Entwaldung. „Früher gab es hier überall Wald“, sagte die Umweltministerin Shukri Haji Ismail kürzlich. Heute sind weite Landstriche vollkommen kahl.
Damit wieder Bäume wachsen, setzt World Vision eine Methode ein, mit der in Niger schon viele Quadratkilometer bewaldet wurden. Farmer Managed Natural Reforestation ist ihr sperriger Name. Um so einfacher ist die Methode selbst: Buschartige Schösslinge der im Boden verbliebenen Baumwurzeln werden so beschnitten, dass nur ein paar Triebe übrig bleiben. Weil im Boden noch die großen Wurzeln der alten Bäume mit Grundwasserkontakt sitzen, wachsen die Triebe schnell heran. Sie brauchen nur Schutz vor den hungrigen Tieren. Das funktioniert selbst in der staubtrockenen Awdal-Region im Norden Somalilands. Die Methode ist einfach, klappt überall – und die Leute sehen schnell Erfolge.
Die Krise wird zum Normalzustand
Gegen den El Niño reicht das nicht aus. Mit dem Versuch, die Menschen widerstandsfähiger gegen Wetterkatastrophen zu machen, ist es nicht getan. Diese Katastrophe ist größer als jede Vorbereitung. Das gilt umso mehr, als das Wetter den Menschen am Horn von Afrika auch in den Jahren zuvor schon zugesetzt hat. In Äthiopien ist es die dritte Dürre in Folge. Sieht der Klimawandel in der Praxis so aus, könnte es für die trockenen Gebieten in Ostafrika unmöglich werden, sich an die Verhältnisse anzupassen. Die Krise wird dann zum Normalzustand.
Was El Niño und La Niña anrichten
Der El Niño 2015/16 hat sich schon im März 2015 angekündigt. Zu diesem Zeitpunkt haben die El-Niño-Vorhersagezentren in den USA und Australien erstmals typische Unterschiede der Oberflächentemperatur des Pazifiks gemeldet, die auf einen El Niño hindeuten. Wenn im Südwest-Pazifik die Oberflächentemperatur des Meeres um mehr als ein Grad steigt, ändert das die Windrichtung. Das Ergebnis ist eine Kette von Wetterereignissen im gesamten Tropengürtel.
Beim aktuellen El Niño betrugen die Temperaturunterschiede während des Höhepunkts im Dezember bis zu sieben Grad. Es ist der stärkste gemessene El Niño.
Zuletzt hatte es ein vergleichbares Ereignis in den Jahren 1997/98 gegeben. Die Bilanz damals waren 21 000 unmittelbar El-Niño-bedingte Tote sowie Schäden an der Infrastruktur von einem Dutzend Länder in Höhe von geschätzt 36 Milliarden Dollar.
Dürre in Asien und Afrika
In Südostasien fallen El-Niño-Jahre trocken aus. Die Dürre hat in Indonesien dazu geführt, dass die Waldbrände komplett außer Kontrolle geraten sind. In Thailand, auf den Philippinen und den pazifischen Inselstaaten hat die Dürre die Ernten dezimiert. Dem kleinen pazifischen Inselstaat Kiribati hat Neuseeland während der Krise sogar mehrfach Tanker mit Trinkwasser geschickt, berichtete die Wissenschaftlerin Nina Hall vor Kurzem bei einer Diskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung über klimabedingte Migration.
Im Osten und Süden Afrikas hat El Niño ebenfalls Dürren gebracht. Beide Regionen waren auch in den Jahren zuvor deutlich zu trocken. Die Ernteausfälle sind dramatisch. Das gilt auch für Haiti und Kuba, wo ebenfalls ein Großteil der Ernte der Dürre zum Opfer gefallen ist. An der Küste Chiles dagegen sind tonnenweise Sardinen und sogar 60 Wale angeschwemmt worden, die wegen der erhöhten Wassertemperatur verendet sind. Dafür sind die Fischer an der südamerikanischen Pazifikküste im vergangenen Jahr, als die Sardinenschwärme hätten kommen sollen, komplett leer ausgegangen.
Vernichtete Ernten
Weil in so vielen Ländern die Ernten vernichtet worden sind, hat dieser El Niño eine lang anhaltende Wirkung auf die Ernährungssicherheit von bis zu 60 Millionen Menschen. Das könnte noch schlimmer werden, wenn der sich abschwächende El Niño in der zweiten Jahreshälfte in ein La-Niña-Phänomen übergeht. Dann ist der Westpazifik kälter als der Rest des Ozeans. Die Wirkung ist genau umgekehrt. Die bisher trockenen Gebiete müssen mit sturzflutartigen Regenfällen rechnen. Überschwemmungen, Erdrutsche und wiederum vernichtete Ernten dürften die Folge sein. La Niña kann bis zu zwei Jahre anhalten. Für die vom El Niño bereits schwer getroffenen Menschen in 37 Ländern ist die unmittelbare Zukunft auch dann noch ungewiss und gefährlich, wenn er sich dem Normalmaß annähert.