Widersprechen oder zustimmen?: Was man zur Organspende wissen sollte
Die Frage wird emotional diskutiert. Nun gibt es einen ersten Gesetzentwurf zur Organspende. Zahlen, Daten, Fakten für eine sehr persönliche Entscheidung.
Wie ist aktuell die Lage beim Thema Organspende in Deutschland?
In Deutschland gibt es trotz allen Werbens viel zu wenig Spender. Der Bundestag will deshalb die Regeln ändern, um mehr lebensrettende Organe für Schwerkranke zu sichern. Doch wie weit kann und soll man gehen? Eine Gruppe Abgeordneter um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat jetzt einen ersten Entwurf ausgearbeitet - ein gegensätzlicher zweiter soll aber bald folgen.
Im Jahr 2018 haben der Deutschen Stiftung Organtransplantation zufolge 955 Menschen nach dem Tod Organe gespendet. Das ist der erste Anstieg im Vergleich zum Vorjahr seit 2009/2010. Trotzdem stehen noch etwa 9400 Menschen auf der Warteliste. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation sterben täglich drei von ihnen. In 54 Prozent der Fälle waren Hirnblutungen die Todesursache der Organspender. Am häufigsten wird die Niere entnommen, am seltensten der Dünndarm. 2017 spendeten in Deutschland 9,7 Menschen pro eine Million Einwohner postmortal ein Organ, in Spanien waren es 46,9. Das Land ist damit Vorreiter in Europa.
Was besagt eine Widerspruchsregelung konkret und wie unterscheidet sie sich von der bisherigen Regelung?
Offiziell gilt in Deutschland seit 2012 eine „Entscheidungsregelung“. Mit ihr soll erreicht werden, dass alle Krankenversicherten sich mit der Frage, ob sie im Todesfalle Organe zur Verfügung stellen würden, beschäftigen und bewusst eine Entscheidung treffen und dokumentieren. Dafür müssen die Krankenkassen regelmäßig entsprechendes Informationsmaterial versenden.
Auch die derzeitige Version des Organspenderausweises spiegelt diese Regelung wider. Denn man kann Besitzer eines solchen sein, aber darauf sämtliche Optionen der Organsende ausdrücklich ausgeschlossen haben. Die Praxis entspricht jedoch nach wie vor eher einer Zustimmungslösung: Per Organspenderausweis oder anderweitig muss jemand der Organentnahme zugestimmt haben. Oder die engsten Angehörigen müssen, wenn dieser Ausweis oder eine entsprechende Patientenverfügung oder dergleichen nicht vorliegt, befragt werden, wie ihrer Meinung nach die hingeschiedene Person entschieden hätte. Eine Widerspruchslösung würde hingegen besagen, dass jeder Person ab dem späten Jugendalter, die sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen eine Organspende ausgesprochen hat, Organe entnommen werden dürfen.
Kriterium für eine Organentnahme ist der Hirntod. Warum gelten nicht andere Kriterien, etwa ein nicht mehr schlagendes Herz?
Der Hirntod gilt als bestmögliches Kriterium, gleichzeitig sicherzustellen dass:
- die betroffenen Person keine Empfindungen und keine Chance mehr hat, zu überleben und
- bei noch funktionierendem Kreislauf Organe trotzdem noch in einem Zustand sein können, der eine Transplantation erlaubt.
Tatsächlich aber setzte sich dieses Konzept erst durch, als bereits einige Organe - vor allem Nieren, die aber oft von Lebendspendern - verpflanzt worden waren. Ein nach dem Hirntod zum Stehen gekommenes Herz galt lange Zeit unter Fachleuten als das bessere Kriterium.
Konkreter Anlass war die erste Herztransplantation 1967. Direkt danach sprach man sich auf internationalen Konferenzen in Sydney und in einen Expertenkomitee an der Harvard University für eine Hirntod-Regelung aus, die nach und nach international akzeptiert, jedoch weiter kontrovers diskutiert wurde. Grund war unter anderem, dass Tierexperimente gezeigt hatten, dass die Erfolgschancen mit einem Herzen, das von allein zu schlagen aufgehört hatte, deutlich schlechter waren.
Kann ein Mensch nach dem Hirntod noch Schmerzen empfinden?
Der Hirntod bedeutet den unwiederbringlichen Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Damit ist das Gehirn als übergeordnetes Steuerorgan endgültig ausgefallen. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen erlöschen mit dem Hirntod auch alle Schmerzempfindungen.
Zur Diagnostik des Hirntods gehören deshalb auch fehlende Reflexe auf starke Schmerzreize, speziell des fünften Hirnnervs (Nervus trigeminus). Dafür durchstechen die diagnostizierenden Ärzte etwa mit einer Injektionsnadel die Nasenscheidewand. Normalerweise führt ein solcher Schmerz zu einem Blutdruckanstieg, schnellem Herzschlag sowie stark erweiterten Pupillen. All das bleibt im Falle des Hirntods jedoch aus.
Trotzdem kann es bei der Organentnahme dazu kommen, dass sich die Muskeln hirntoter Personen unwillkürlich anspannen. Ursache sind Rückenmarksreflexe. Deshalb können muskelentspannende Medikamente gegeben werden – um die Entnahme zu erleichtern, nicht wegen drohender Schmerzen. Allerdings können Organspender, die Sorge vor Schmerzen haben, im Vorfeld verfügen, dass sie auch ohne medizinische Begründung vor der Organentnahme ein Schmerzmedikament erhalten. So äußert sich der Deutsche Ethikrat zum Thema Hirntod.
Kann eine Organspende mit der Patientenverfügung kollidieren?
Ja, das ist möglich. Solch ein Widerspruch tritt zum Beispiel auf, wenn jemand in einer Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen ablehnt, gleichzeitig aber einer Organ- oder Gewebespende zustimmt. Denn um zu klären, ob jemand für eine Organspende geeignet ist und um diese vorzubereiten, müssen lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt werden, jedoch nicht über Tage oder Wochen.
Die Aussagen in der Patientenverfügung und auf dem Organspendeausweis sollten sich also möglichst nicht widersprechen. Und auch in der Patientenverfügung kann man seine Entscheidung für oder gegen eine Organspende festhalten. Um eine solche Entscheidung klar und ohne Widerspruch zu formulieren, stehen unter www.organspende-info.de/organspendeausweis/patientenverfuegung Textbausteine zur Verfügung.
Wie sicher ist es, dass die Zahl der Organspenden mit der Widerspruchslösung zunehmen wird?
Von einer automatischen Erhöhung der Zahl der Spenderorgane ist nicht auszugehen, in Schweden sank sie nach Einführung der Widerspruchslösung sogar. Die Widerspruchslösung geht davon aus, dass die grundsätzliche Zustimmung zur Organspende in der Bevölkerung vorhanden ist.
Studien zufolge (etwa der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2018) werten 84 Prozent der Deutschen die Organspende "eher positiv“. Allerdings dokumentieren aktuellen Erhebungen zufolge derzeit nur 39 Prozent diese Entscheidung in einem Organspendeausweis oder einer Patientenverfügung. Diese Zustimmungslücke soll die Widerspruchslösung schließen. Man erhofft sich davon mehr potenzielle Organspender.
Doch damit allein sei das Problem nicht gelöst, sagt Claudia Wiesemann, Ethikrat-Mitglied und Direktorin der Abteilung „Ethik und Geschichte der Medizin“ der Universitätsmedizin Göttingen. Zum einen sei die Zustimmungsquote zur Organspende in Deutschland auch ohne Widerspruchregelung de facto hoch: Nur etwa 24 Prozent der Angehörigen potenzieller Organspender lehnten die Entnahme ab, wenn sie nach Feststellung des Hirntodes gefragt werden.
Zum anderen würden aufgrund der Prozesse in den Kliniken zu wenige Organe zur Verfügung stehen. Denn dazu müsse ein Verstorbener auf einer Intensivstation als potenziellen Organspender identifiziert, ein Transplantationsbeauftragter gerufen, der Hirntod diagnostiziert, organerhaltende Maßnahmen eingeleitet, mit den Angehörigen gesprochen und am Ende die Entnahmeoperation durchgeführt werden.
Einer Studie des Kieler Nierenarztes Kevin Schulte zufolge sind diese Abläufe in Deutschland alles andere als optimal organisiert. Unter 100.000 Todesfällen in Deutschland identifizierten Schulte und seine Kollegen die potenziellen Organspender und verglichen die Zahlen mit denen der letztlich tatsächlich gemeldeten Spender. Letztere lagen immer deutlich niedriger und gingen im Studienverlauf zudem weiter zurück: um etwa 30 Prozent zwischen 2010 und 2015.
Gründe sind Zeit- und Personalmangel, aber auch finanzielle Beweggründe der Kliniken. „Es gibt ein substanzielles Melde-, Organisations- und Entnahmedefizit der Krankenhäuser“, sagte Wiesemann auf einer Ethikratsveranstaltung. „Das ist ein Prozess, den wir mit fünf Prozent mehr Einwilligung – das ist vielleicht realistisch, was wir mit der Widerspruchslösung erreichen können – nicht korrigieren können.“ Zwar sollen die Organisationsdefizite in den Kliniken durch ein seit 1. April gültiges Gesetz verbessert werden. Doch das sei schon durch die verpflichtende Einführung des Transplantationsbeauftragten 2012 versucht worden, ohne erkennbare darauf zurückzuführende Zunahme der Zahl der Spenderorgane.
Wie ist die Organspende in anderen EU-Ländern geregelt und welche gilt, wenn man dort etwa nach einem Unfall potenzieller Spender würde?
Die „Zustimmungslösung“ in Dänemark, Griechenland, Litauen, Rumänien und der Schweiz erfordert eine ausdrückliche Erklärung für die Organspende zu Lebzeiten einer Person. Liegt keine vor, können die Angehörigen entscheiden, wenn die Länder für diesen Fall die „erweiterte Zustimmungslösung“ vorsehen (Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Litauen, Rumänien, Schweiz).
Die „Widerspruchslösung“, die derzeit in Deutschland diskutiert wird, gilt bereits in Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und Zypern. Dort können Organe entnommen werden, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Das gilt auch für Urlauber, die in diesen Ländern versterben und ihre Entscheidung zuvor nicht dokumentiert haben. In Belgien, Estland, Finnland, Litauen und Norwegen können Angehörige der Entnahme widersprechen, wenn keine Zustimmung des Verstorbenen vorliegt.
Wäre die Widerspruchslösung ein Novum für Deutschland?
Nein. Eine der jetzt diskutieren Widerspruchslösung sehr ähnliche gesetzliche Regelung galt seit 1975 in der DDR. Im Gesetzestext hieß es, die Organentnahme von Verstorbenen für Transplantationszwecke sei „zulässig, falls der Verstorbene zu Lebzeiten keine anderweitigen Festlegungen getroffen hat“. Die Angehörigen mussten nicht gefragt oder auch nur informiert werden. Ein ehemaliger Pfleger in Suhl berichtete dem MDR etwa von einem tödlich verunglückten jungen Skifahrer, dem Nieren entnommen worden waren. Die Familie beerdigte ihn, ohne dies zu wissen. Die Regelung hatte auch Folgen für die Bundesrepublik, da so aufgrund der Eurotransplant-Kooperation auch dort dann mehr Organe - aus der DDR - zur Verfügung standen.