Organspende und Impfpflicht: Zwang ist eine Botschaft, die Leben retten kann
Gesundheit ist immer auch die Gesundheit der anderen – wenn das zunehmend vergessen wird, muss die Politik daran erinnern. Ein Kommentar.
Schon merkwürdig, wann immer es um das Thema Gesundheit geht, kreisen die Gespräche regelmäßig und in Sachen korrekte Ernährung nahezu erschöpfend um das eigene Wohlergehen. Was man tun kann, um anderen ein gesundes Leben zu ermöglichen, steht seltener in Rede. Das übernimmt zurzeit die Politik.
Der zuständige Minister Jens Spahn wirbt im Bundestag für sein Modell einer Widerspruchslösung bei Organspenden, parallel treibt er angesichts von Masernfällen die Debatte um eine Impfpflicht voran; parteiübergreifend gibt es dafür viele Unterstützer, Kritik kommt aus dem linken und grünen Lager. Ebenfalls merkwürdig: Normalerweise bringt die Opposition die Regierung unter Druck. Hier ist es andersherum.
Der Umstand zeigt, wie schwer es fällt, sich zu orientieren. Keineswegs leichter wird es, indem die Politik die Organspende als ethische Frage entscheiden will, nach Gewissen der Mandatsträger. Während Ethik bei der Impfpflicht bisher nicht so wichtig sein soll; hier zählt das gewünschte Ergebnis.
Eigentlich traurig, dass erst Zwang in Erwägung gezogen werden muss […].Eigentlich sollten erwachsene Menschen so wichtige Dinge ohne gesetzlichen Zwang regeln, aus Verantwortung für sich, ihre Angehörigen und die mitbetroffenen Mitmenschen.
schreibt NutzerIn AdeleSandrock
Tatsächlich handelt es sich bei beiden Maßnahmen um einen Beitrag, den Einzelne auf eigene Kosten für andere erbringen. In rechtlichen Kategorien: Um einen Eingriff in das Grundrecht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit, für den es einer Rechtfertigung bedarf.
Bei der Organspende ist es einfacher: Spahn will, dass als Spender gilt, wer trotz Anfrage nicht widerspricht. Das soll die bemerkenswerte Kluft überbrücken, die in der Bevölkerung zwischen der per Umfrage annoncierten Bereitschaft und dem tatsächlichen Spenderaufkommen besteht. Viele Patienten sterben deshalb, obwohl sie leben könnten.
Der Eingriff erscheint hier eher gering. Jeder und jedem steht es frei, ihn sanktionslos abzulehnen. Und selbst wenn dies ignoriert, vergessen, übergangen wird, trifft es später nur Tote. Welches Gewissen die Abgeordneten hier aktivieren sollen, bleibt daher etwas rätselhaft. Es ist wohl weniger eine Moralfrage als eine von Kultur, Sitte und ärztlicher Praxis, wie sich es auch in den vielen EU-Staaten erweist, in denen diese Regelung praktiziert wird.
Etwas anders liegt es beim Impfen. Hier würden gerade Kinder in die Pflicht genommen und einem, wenn auch beherrschbaren, gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Über neunzig Prozent der Eltern halten dies vernünftigerweise dennoch für angezeigt. Reicht die Freiwilligenquote? Wenn, dann wohl nur knapp. Immer wieder kommt es bei Masern zu Ausbrüchen, die sich zwar begrenzen lassen, aber immer gefährlich und vor allem vermeidbar sind.
Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung, das bedeutet viel, aber eben nicht alles. Der freiheitliche Verfassungsstaat muss erst überzeugen, bevor er zum Dienst am Gemeinwohl verpflichtet. Bei der Organspende wurde vieles versucht, es brachte wenig. Bei der Impfung hätte mehr geschehen müssen.
Andererseits ist Aufklärung in der Informationsfülle paradoxerweise nicht einfacher, sondern schwieriger geworden. Selbst der Staat mit seinen teuren Kampagnen und überlegenen Kommunikationsmitteln wirkt verloren, wenn er sich einer viral verbreiteten Massenskepsis gegenübersieht, die gegen jedes Argument immun erscheint. Man glaubt, was man glauben will. Zwang ist angesichts dieser Umstände zumindest eine Botschaft, die gehört wird.