Jamaika und Europa: Was kümmert uns die Welt?
Deutschland zeigt gerade ein bemerkenswertes Desinteresse an wichtigen europäischen und umweltpolitischen Fragen. Der Grund liegt in den Jamaika-Sondierungen. Ein Kommentar.
Europa – das war eines der Stichworte, das für Freitag zwischen den Parteien einer möglichen Jamaikakoalition auf der Themenliste stand. Etwa zur gleichen Zeit hatten sich im schwedischen Göteborg die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union außerhalb der Routinetermine getroffen, am Rande einer EU-Konferenz über soziale und kulturelle Fragen. Da wurden Mindeststandards vereinbart, man freute sich über das Erasmusprogramm. Das ist 30 Jahre alt und ermöglichte einen vielhunderttausendfachen Austausch zwischen jungen Menschen aus ganz Europa. Die EU darf stolz darauf sein, denn Erasmus macht allen möglich, was früher nur für Studenten aus wohlhabenden Familien erreichbar war.
Auch Theresa May kam nach Göteborg. Ihr war das Treffen hoch willkommener Anlass, über den Brexit zu reden. Deutschland hingegen fehlte. Angela Merkel verhandelte in Berlin über Jamaika. Eine Vertretung war nach den Regeln nicht möglich. Die deutsche Politik wäre derzeit ohnedies nicht zu substanziellen Beiträgen in der Lage gewesen. Zu konfrontativ sind die Europavorstellungen zwischen Grünen und FDP, zwischen CSU und Grünen. Daraus lässt sich keine gemeinsame Richtung destillieren. So etwas gab es früher nicht. Dass eine der wichtigsten Industrienationen der Welt, lange Vorreiter der Umweltpolitik, im Moment selbst bei globalen Debatten nur hinhaltend taktieren kann, musste die Kanzlerin gerade bei der Weltklimakonferenz in Bonn peinlich offenbaren.
Mit Theorie-Sätzen wie „Wir bekennen uns zur Gestaltung eines starken und geeigneten Europa“ in einem Diskussionspapier machen sich die Jamaikaparteien, weil der Satz so banal ist, lächerlich. In der Praxis will das Europaparlament gerade an den, sicher problematischen, Dublinregeln festhalten, wonach jene Länder für Asylsuchende zuständig sind, deren Boden Flüchtende zuerst betreten haben. Die Abgeordneten wollen sie aber durch einen Verteilerschlüssel auf die 27 Mitgliedsstaaten praktikabel machen. Polen ist klar dagegen, Ungarn und Tschechien sowieso. Bereden kann man das aber auch in Berlin nicht. Die Grünen wären dafür, die CSU wahrscheinlich nicht, die FDP irgendwo dazwischen.
In Frankreich hofft der neue Präsident auf ein Signal aus Deutschland, das wenigstens den Tenor des erwähnten Papiers aufnimmt. Aber Berlin bleibt stumm, weil CSU und FDP alles ablehnen, was mit zusätzlichen Kosten für Deutschland verbunden sein könnte. Emmanuel Macron ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die letzte Chance, Deutschland und Frankreich auf einen Weg zu führen und Europa zu stärken. Denn das wissen eigentlich alle Verhandler, die jetzt in Berlin die Nächte durchmachen: Scheitert Macron, regiert demnächst westlich des Rheins der Front National. Dabei hat Wolfgang Schäuble noch als Finanzminister einen Plan entwickelt, den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, zu einem Europäischen Währungsfonds nach dem Modell des IWF umzubauen. Das würde Macrons Pläne auf den Boden stellen und allen in Europa nützen. Aber auch hier: Die deutsche Politik ist derzeit stimmlos.
In Bonn, bei der Weltklimakonferenz, verkündeten in dieser Woche 18 große industrialisierte Staaten den schnellen Ausstieg aus der Kohle. Deutschland war nicht dabei. Der Grund? Siehe oben.
Die Botschaft der Welt an das Raumschiff Berlin lautet: Bitte landen.
Gerd Appenzeller