Bevollmächtigter Westerfellhaus: "Personaluntergrenzen sind auch für Heime nötig"
Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung Westerfellhaus über fehlende Fachkräfte, Mindeststandards und Gehälter in der Branche.
Herr Westerfellhaus, Sie sind seit fünf Monaten Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung. Befinden Sie sich noch in der Anfangseuphorie oder ist der Frust schon da?
Als jemand, der direkt aus der Pflegeprofession kommt, weiß ich um die hohe Erwartungshaltung der Branche. Aber ich wusste auch, was mich hier erwartet. Verantwortliches Gestalten in der Regierung ist was anderes als Opposition. Hier geht es darum, Partner zu finden, um beste Lösungen zu ringen, mit Beharrlichkeit zu überzeugen.
Politik ist das Bohren dicker Bretter. Beim Pflegenotstand soll und muss es jetzt aberschnell gehen. Ist das überhaupt möglich?
Was schon mal gelungen ist: Die ersten Gesetze sind auf dem Weg und es wurde noch nie so viel und so intensiv über Pflegethemen diskutiert wie in den vergangenen Monaten. Aus der Branche kommt da aber natürlich sofort der Halbsatz hinterher: Es wurde auch Zeit. Und es darf nicht nur beim Reden bleiben.
2011 wurde von der Politik schon mal ein Jahr der Pflege ausgerufen. Geschehen ist kaum was. Wieso soll das bei der jetzt verkündeten Konzertierten Aktion für die Pflege anders sein?
Anders als 2011 haben inzwischen viele erkannt, dass wir ein gesamtgesellschaftliches Problem haben. Mich sprechen Abgeordnete an, die sich in ihrem Wahlkreis statt mit Milchpreisen und Schweineerzeugung plötzlich mit der Frage beschäftigen, wie sie die Pflege in ihren Krankenhäusern sichern können. Oder das Angebot für Kurzzeitpflege ausweiten. Das ermutigt mich. Große gesellschaftliche Veränderungen gab es immer, weil eine Mehrheit gesagt hat: So geht es nicht weiter, so wollen wir das nicht mehr. Denken Sie an die Energie- und Umweltpolitik. Das bringt die Pflege in eine Position, in der wir viel bewegen können.
Die Konzertierte Aktion will auch wieder nur Vorschläge erarbeiten. Und lässt sich dafür nochmal zwölf Monate Zeit...
Es ist ein deutliches Signal, dass sich nun gleich drei Ministerien – Arbeit, Familie und Gesundheit – damit beschäftigen. Ich bin intensiv daran beteiligt und werde nicht lockerlassen. Man wird uns daran messen, was wir am Ende präsentieren.
Dass dem Land die Pflegekräfte ausgehen, liegt auch an den niedrigen Löhnen. Die Politik will sich jetzt einmischen und Tarife für allgemeingültig erklären. Aber die Anbieter wehren sich und sagen, die Marktwirtschaft wird's schon richten…
Ich teile diese Einschätzung überhaupt nicht. In den vergangenen 30 Jahren hat es die Marktwirtschaft eben nicht gerichtet. Mir kann auch keiner erklären, wieso eine Altenpflegerin in Niedersachsen rund 400 Euro weniger verdient als in Nordrhein-Westfalen. Und warum viele Heimbetreiber und ambulante Dienste trotz der Zusage, Tariflöhne refinanziert zu bekommen, weiter Niedriglöhne bezahlen.
Die privaten Anbieter sagen, bei der großen Nachfrage könne sich doch jede Pflegekraft ihren Arbeitgeber aussuchen.
Diese Argumentation ist zynisch. 80 Prozent der Pflegekräfte sind Frauen. Ein großer Teil ist teilzeitbeschäftigt, viel zu oft unfreiwillig. Im ländlichen Raum haben solche Arbeitnehmer keine Alternative. Und es macht mich auch wütend, wenn mir in München eine junge Frau sagt: Ich kann es mir hier nur leisten, als Altenpflegerin zu arbeiten, weil mein Mann Hauptverdiener ist. Das muss man sich mal vorstellen. Vielleicht hängt die schlechte Bezahlung ja genau damit zusammen: dass es sich um einen Beruf mit hohem Frauenanteil handelt.
Zu den Ideen gehört die Anwerbung ausländischer Fachkräfte. Ist es eine Lösung, armen Ländern Pflegekräfte abzuziehen?
Wir diskutieren nicht über arme Länder, denn die Weltgesundheitsorganisation führt zu Recht eine Liste aller Länder, bei denen eine Anwerbung tabu ist. Daran orientieren wir uns. Aber es gibt auch Staaten mit vielen Pflegekräften, die dort keinen Job bekommen – Vietnam etwa, wo man seine Pflegeausbildung selbst bezahlen muss. Für diese Menschen käme, zumindest temporär, eine Tätigkeit bei uns in Frage. Das muss dann auch keine Einbahnstraße sein. Mit den hier erworbenen Kompetenzen könnten die Angeworbenen später auch ihre Heimat bereichern. Es darf aber nicht sein, was momentan geschieht: dass einzelne Betreiber unkontrolliert Pflegekräfte aus dem Ausland rekrutieren. Wir hören da oft von Versprechungen, die nicht gehalten werden. So was geht nicht.
Sie haben vorgeschlagen, Berufsrückkehrern 5000 Euro steuerfrei zu spendieren. Glauben Sie im Ernst, dass sich ausgebrannte Pflegekräfte durch Einmal-Prämien zurückgewinnen lassen?
Eine ausgebrannte Pflegekraft, die mit dem Job abgeschlossen hat, wird mir den Vogel zeigen. Und wer die Prämie nimmt, dann aber in der gleichen Tretmühle landet, wird auch schnell wieder weg sein. Andererseits beobachten wir, dass sich Träger in München mit ähnlich hohen Prämien gegenseitig die Pflegekräfte abwerben. Man sollte meine Vorschläge aber nicht auf diese Idee verkürzen. Ich habe auch angeregt, Rückkehrern bessere Arbeitsbedingungen zu bieten. Und ihre Arbeitszeit auf 80 Prozent zu verkürzen, bei vollem Lohnausgleich. Dadurch lassen sich Beschäftigte gesund erhalten und Ausfallzeiten durch die Vertrauensarbeitszeit deutlich reduzieren.
Bei den Prognosen wird einem ganz schwindlig. Die Bertelsmann-Stiftung hat für 2035 eine Lücke von bis zu 500.000 Pflege-Vollzeitkräften prognostiziert.
Die Zahlen zeigen eindrücklich, über welche Dimensionen wir reden. Aber man darf nicht nur darauf starren. Ganz wichtig wäre ein besseres Zusammenwirken der Berufsgruppen. Beim Blick auf die Versorgungsengpässe in ländlichen Regionen muss jedem klar sein, dass wir hier eine Neujustierung brauchen. Das darf nur der Arzt, das nur Pflegekraft oder Physiotherapeut: Wir vergeuden enorm viel Energie durch solche Abgrenzung.
Können technischer Fortschritt, Digitalisierung, Telematik das Problem wenigstens ein bisschen entschärfen?
Wenn Menschen sich sicher fühlen können, durch Hausnotruf, Sturzprophylaxe und andere Hilfssysteme, können sie länger zu Hause leben und müssen nicht gleich ins Heim. Bessere Absicherung kann auch viele Klinikeinweisungen verhindern. Genauso wichtig ist die digitale Dokumentation. Da sind wir noch Entwicklungsland. Ambulante Dienste zum Beispiel führen eine Akte, die beim Patienten liegt. Im Pflegestützpunkt schreiben die Fachkräfte noch mal alles in den Computer, der wiederum nicht vernetzt ist mit der Abrechnungsstelle. Jede Gaststätte kann heute bei ihren Bestellungen effektiver arbeiten.
Lässt sich menschenwürdige Pflege in der alternden Gesellschaft überhaupt allein aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung finanzieren? Müsste dafür nicht auch der Steuerzahler einspringen?
Nehmen Sie meine Vorschläge für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. Ich fände es keine schlechte Idee, dieses Paket aus Steuermitteln zu finanzieren. Momentan sprudeln die Steuereinnahmen. Gleichzeitig wissen alle, dass wir bei der Pflege vor einer Herkulesaufgabe stehen.
Weil sich die Selbstverwaltung nicht einigen konnte, wird das Ministerium jetzt für die Pflege in Krankenhäusern Mindestpersonalstärken anordnen. War das nötig?
Ich finde es beschämend, dass es die Selbstverwaltung nicht geschafft hat, das selbst zu regeln. Der Gesundheitsminister hat nun in einem ersten Schritt Mindestpersonalstärken für vier Klinikbereiche vorgegeben. Ich stehe voll hinter dieser Entscheidung. Es ist ein starkes Signal an die Kliniken. Und nicht das Ende der Fahnenstange. Wir brauchen Personaluntergrenzen für alle bettenführenden Abteilungen. Und wir werden dafür sorgen, dass Verstöße gegen die Vorgaben auch mit Sanktionen belegt werden.
Bis zur Konsequenz, Abteilungen wegen zu wenig Pflegekräften schließen zu lassen?
Auch das gehört zur Verantwortlichkeit der Träger. Die Menschen gehen ins Krankenhaus, weil sie Pflege brauchen. Sonst könnten sie sich ambulant behandeln lassen. Wenn nicht genügend Fachpersonal vorhanden ist, funktioniert das nicht. Die Untergrenzen sind die dunkelroteste Linie, die man sich vorstellen kann.
Bräuchte es nicht auch Untergrenzen für Pflegekräfte in Altenheimen?
Was für Kliniken gilt, muss auch für die stationäre Altenpflege gelten. Dort gibt es ebenfalls intensivst pflegebedürftige Menschen, die fachlich qualifiziertes Personal benötigen. Wer daran spart und meint, er könne sich mit Hilfskräften durchmogeln, riskiert die Gesundheit der ihm anvertrauten Menschen. Wir brauchen auch in den Heimen valide Mindestvorgaben für das vorzuhaltende Fachpersonal.