Hilferuf aus Mariupol, Vormarsch auf Kiew: Was in der Nacht in der Ukraine passiert ist
Der militärische Druck auf ukrainische Städte wächst: kein Strom, keine Heizung, viele Tote. Präsident Selenskyj ruft zum Widerstand auf. Der Überblick.
Nach einer gescheiterten Feuerpause meldet die von Russland belagerte ukrainische Hafenstadt Mariupol am Sonntagmorgen dramatische Zustände. Zudem rücken russische Truppen weiter auf die Hauptstadt Kiew und andere Städte vor, wie der ukrainische Generalstab erklärte. Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Ukrainer erneut zum Widerstand auf. Zugleich wächst der wirtschaftliche Druck auf Moskau: Mastercard und Visa kappen internationale Kreditkartenzahlungen mit Russland.
Das Kriegsgeschehen
Nach mehr als einer Woche Krieg hatten die beiden Seiten am Samstag eine mehrstündige Waffenruhe für die südukrainische Hafenstadt Mariupol und eine Kleinstadt der Umgebung vereinbart, um Zivilisten fliehen zu lassen. Doch wurde die Feuerpause gebrochen, die Evakuierung scheiterte. Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach danach im Fernsehen von einer „humanitären Blockade“ der Stadt durch russische Einheiten.
Seit fünf Tagen gebe es keinen Strom und keine Heizung sowie Probleme mit der Wasserversorgung. Nach Beschuss gebe es Tausende Verletzte und viele Tote, sagte der Bürgermeister. Er flehe um die Errichtung eines Korridors, um Ältere, Frauen und Kinder aus der Stadt zu bringen.
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Der ukrainische Generalstab erklärte am Sonntagmorgen, der Hauptfokus der seit dem 24. Februar laufenden russischen Offensive sei weiter die Umzingelung der Städte Kiew, Charkiw im Osten und Mykolajiw im Süden. Russische Einheiten versuchten, in die südwestlichen Außenbezirke von Kiew einzudringen.
Zudem näherten sie sich der Autobahn von der Kiewer Vorstadt Browary nach Boryspil, wo der internationale Flughafen Kiews liegt. Nach Einschätzung der ukrainischen Armee plant Russland, den Damm des Wasserkraftwerks Kaniw rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro einzunehmen.
Präsident Selenskyj forderte seine Landsleute in einer Videobotschaft auf, die russischen Truppen zu vertreiben. „Wir müssen nach draußen gehen! Wir müssen kämpfen! Wann immer sich eine Gelegenheit bietet.“ Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten wie in Cherson, Berdjansk oder Melitopol nach draußen gehen „und dieses Übel aus unseren Städten vertreiben“. Aus den genannten ukrainischen Städten gab es in den vergangenen Tagen Berichte darüber, dass sich einfache, unbewaffnete Menschen russischen Einheiten entgegengestellt hatten.
Israel versucht zu vermitteln
Internationale Vermittlungsversuche scheinen in dem Krieg derzeit wenig zu fruchten. Israels Ministerpräsident Naftali Bennett war am Samstag zu Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Moskau gereist. Nach israelischen Angaben dauerte die Unterredung drei Stunden. Bennet telefonierte auch mit Selenskyj. Ergebnisse wurden nicht bekannt.
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Bennet kam anschließend zu einem eineinhalbstündigen Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz nach Berlin. Danach erklärte der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber nur, das gemeinsame Ziel bleibe es, den Krieg in der Ukraine „so schnell wie irgend möglich“ zu beenden. „Daran werde man mit aller Kraft arbeiten.“ Auch US-Präsident Joe Biden telefonierte mit Selenskyj.
Wirtschaftlicher Druck auf Russland
Die USA, die EU und andere westliche Partner hatten seit Kriegsbeginn harte Sanktionen gegen Russland verhängt. Nun kam ein weiterer Schlag der Privatwirtschaft hinzu: Die beiden weltgrößten Kreditkartenanbieter, Visa und Mastercard, setzten die Geschäfte mit Russland aus.
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Visa erklärte, man werde alle Transaktionen in den kommenden Tagen einstellen. Danach würden in Russland ausgestellte Karten nicht mehr im Ausland funktionieren. Mastercard äußerte sich ähnlich. Beide Unternehmen hatten bereits vorher keine Transaktionen mehr für russische Banken abgewickelt, die von internationalen Sanktionen betroffen sind.
Zehntausende ukrainische Flüchtlinge in Deutschland
Vor dem Krieg fliehen weiter täglich Zehntausende Menschen über die ukrainischen Grenzen in die Europäische Union. Rund 830.000 gelangten allein nach Polen, Zehntausende nach Deutschland. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte die Aufnahme der Menschen unabhängig von der Nationalität zu. „Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Pass ab“, sagte Faeser der „Bild am Sonntag“.
„Der allergrößte Teil der Geflüchteten sind Ukrainerinnen und Ukrainer. Menschen aus anderen Staaten, die in der Ukraine schon ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht hatten, bringen diesen Status mit.“ Sie nannte als Beispiel Inder, die in der Ukraine studiert haben. Die europäische Zusammenarbeit in der Versorgung der Flüchtlinge nannte Faeser „historisch“. (dpa)