Die Macht der Schirme: Was hinter den Massenprotesten in Hongkong steckt
Trotz Zusammenstößen mit der Polizei demonstrieren die Hongkonger weiter. Warum sind ihre Proteste wichtig? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
„Duftender Hafen“ heißt die südchinesische Hafenstadt Hongkong übersetzt. Der Name stammt vermutlich von den Sandelholzmühlen, die dort einst standen, und die einen süßlichen Geruch verströmt haben sollen. In diesen Tagen jedoch liegt beinahe täglich der beißende Gestank von Tränengas über einigen Straßen der Millionenstadt. Obwohl die Hongkonger Regierung das umstrittene Auslieferungsgesetz zurückgezogen hat (siehe nebenstehender Text), demonstrieren vor allem junge Menschen massenhaft weiter. Oftmals enden die Demonstrationen in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, so auch an diesem Wochenende. Bereitschaftspolizisten feuerten am Sonntag Tränengas auf Demonstranten, die nach einem nicht genehmigten Protestmarsch an mehreren Stellen in der Stadt Barrikaden errichtet hatten.
Warum demonstrieren die Hongkonger Bürger weiter?
Hongkongs umstrittene, pekingfreundliche Regierungschefin Carrie Lam hat das Auslieferungsgesetz zwar für tot erklärt, zurückgezogen aber hat sie es noch nicht. „Nieder mit dem bösen Gesetz“, forderten daher die Demonstranten am Sonntag erneut. Inzwischen aber haben sie auch weitergehende Forderungen. So solle die Regierungschefin zurücktreten und ihre Einordnung der Demonstrationen als „Krawalle“ zurücknehmen. Zudem fordern die Demonstranten eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt bei den Protesten.
Die Demonstrationen sind ein Wiederaufflammen der Demokratiebewegung von 2014, die als „Regenschirm-Bewegung“ bekannt wurde. Die Schirme sind auch jetzt wieder zum Symbol der Demonstranten geworden. Doch weil die Anführer von 2014 geflohen oder zu Haftstrafen verurteilt worden sind, gibt es bei den aktuellen Protesten keine Führungsfiguren.
Hongkong genießt nach seiner Rückgabe 1997 an China einen Sonderstatus. Nach dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ gelten dort etwa Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Doch diese Freiheiten werden durch den wachsenden Einfluss der von der Kommunistischen Partei autoritär regierten Volksrepublik immer weiter eingeschränkt. „Befreit Hongkong“ rufen die Demonstranten und fordern eine „Revolution“. Zugleich haben sie sich auch radikalisiert, wie die kurzzeitige Besetzung des Parlaments und der Angriff auf das Verbindungsbüro der Volksrepublik gezeigt haben.
Warum steht auch die Polizei in der Kritik?
Die Kritik an der Polizei entzündete sich am Einsatz vom 16. Juni, als die Beamten nach Ansicht der Demonstranten unverhältnismäßig hart gegen Protestierende, unbeteiligte Passanten und Journalisten vorgegangen sind. Viele Fotojournalisten protestierten anschließend, indem sie die nächste Pressekonferenz der Polizei mit Schutzhelmen und Schutzmasken besuchten. Später standen auch Polizeieinsätze in Einkaufszentren und U-Bahnstationen in der Kritik, weil unbeteiligte Passanten in den Konflikt hineingezogen wurden.
Besonders empört sind die Demonstranten freilich darüber, dass die Polizei lange Zeit nicht zu sehen war, als vor Wochenfrist ein in weiße T-Shirts gekleideter Schlägertrupp im Hongkonger Vorort Yuen Long Demonstranten und Passanten angriff und mindestens 45 Menschen verletzte. Videos in sozialen Medien, auf denen sich Polizisten zurückziehen oder mit den Schlägern freundschaftlich sprechen, nährten den Verdacht, dass die Polizei mit der örtlichen Mafia gemeinsame Sache mache. Die Polizeiführung widersprach.
Was bedeuten die Proteste für die Volksrepublik China?
„Die Proteste sind eine Blamage“, sagt Kristin Shi-Kupfer vom Berliner China-Forschungsinstitut Merics. „Weder die Hongkonger noch die Pekinger Regierung hatte offensichtlich mit solch massiven Demonstrationen gerechnet.“ Der Herrschaftsanspruch der chinesischen Regierung sei herausgefordert. Peking machte inzwischen „ausländische Mächte“ dafür verantwortlich. Außenamtssprecherin Hua Chunying forderte insbesondere die US-Regierung auf, „ihre schmutzigen Hände so schnell wie möglich aus Hongkong zurückzuziehen“.
China zensiert auch Nachrichten aus Hongkong massiv, um ein Überschwappen der Proteste auf das Festland zu verhindern. Das funktioniert offenbar gut, bereits in der Millionenstadt Shenzhen, die an Hongkong grenzt, wissen viele Chinesen nicht über die benachbarten Proteste und die Hintergründe Bescheid. Als Aktivisten das chinesische Wappen des Verbindungsbüro beschmierten, wurde das in vielen chinesischen Medien gezeigt – offenbar um patriotische Gefühle zu wecken und die Festlandchinesen gegen die Hongkonger Demonstranten aufzuwiegeln.
Wie groß ist die Gefahr, dass das chinesische Militär eingreift?
Der Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums Wu Qia hat die Demonstranten bereits als „nicht tolerierbar“ bezeichnet. Das Militär könne auf Bitten der Hongkonger Regierung zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung mobilisiert werden, sagte er.
Nach Informationen der „South China Morning Post“ hat die Hongkonger Regierung aber den Gedanken daran „schnell verworfen“. Auch China dürfte vorerst daran kein Interesse haben. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen eines solchen hoch sensiblen Einsatzes sind gegenwärtig nur schwer abzuschätzen.
Warum betreffen die Hongkonger Proteste auch westliche Demokratien?
Unterstützung erhalten die Hongkonger Demonstranten von Taiwans Präsidentin. „Taiwan und der Rest der Welt verfolgen sehr genau die Entwicklungen der #HongKongProtest“, twitterte Tsai Ing-wen. „In ihrem Streben nach Demokratie und Freiheit ist das Volk von Hongkong nicht allein.“ Ihrer Insel geht es ähnlich, sie wird von China als Teil der Volksrepublik angesehen und militärisch bedroht.
Auch die Hongkonger Demokratie-Aktivisten Bonnie Leung sieht im „Deutschlandfunk“ die Auseinandersetzung in ihrer Stadt als Kampf der Systeme. Leung sagt: „In Wahrheit reden wir doch darüber, welche Seite den Kampf gewinnen wird: Totalitarismus versus Demokratie.“