Eine kleine Psychoanalyse der AfD: Was die Rechten in Ostdeutschland so erfolgreich macht
Aus der rechten Rhetorik im Osten spricht auch das Unbewusste der Ex-DDR: Von Schuld und Scham, von verschobener Wut und nachgeholtem Aufstand. Ein Essay.
Was ist passiert? Was ist das für ein politischer Klimawandel? Wie kann es sein, dass Groll und Aversion, Verdruss und Hass weite Teile der politischen Landschaft in den neuen Bundesländern prägen?
Jetzt, vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, werden rationale Erklärungen gesucht, es wird erinnert an die enormen Anstrengungen auf beiden Seiten der einstigen Mauer. Im Osten mussten sich fast alle und fast über Nacht in neue Gesetze, Behörden und Regularien einfinden. Aus dem Westen flossen, je nach Schätzung, 1200 bis 1400 Milliarden Euro in den Aufbau Ost. Es war und ist das wohl monumentalste Programm einer ökonomischen Entwicklungshilfe seit dem Marshall-Plan, mit dem Amerika den Aufbau in der Bundesrepublik und ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte, nach einem heißen Krieg. Der Kalte Krieg endete glücklich, ohne in einen heißen zu münden.
Doch offenbar wird das Glück im Osten des Landes von großen Gruppen nicht honoriert, deren Unmut die AfD politisch bündelt. Selten ist dabei noch die Rede von realen Ungerechtigkeiten, etwa den durch die „Treuhand“ entstandenen Verwerfungen. Auch die Dominanz von Leitfiguren aus dem Westen wie Alice Weidel, Alexander Gauland oder Thilo Sarrazin stört nicht, denn AfD, Pegida und Co bewirtschaften inzwischen ganz andere Äcker.
Nahezu verzweifelte Gegenwehr
Auf selbstgepflügter Scholle säen sie xenophobe, europafeindliche und antidemokratische Ressentiments, und an ihren rechtesten Rändern siedeln agrarische Öko-Gruppen mit völkischer Rasseideologie.
Unlängst haben Ehemalige der DDR-Bürgerbewegung einen Offenen Brief wider die „Alternative für Deutschland“ verfasst, ein Dokument der Klarstellung, des Zorns und auch des perplexen Entsetzens: „Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“.
Der Brief, gezeichnet unter anderem von Marianne Birthler, Wolfgang Thierse und Gerd Poppe, beklagt die „absurden Gleichsetzungen und Aneignungsversuche der Revolution von 1989“. Nahezu verzweifelt wehren sie sich gegen behauptete Parallelen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, gegen das neurechte Argument, wonach ein vollendender Aufstand „des Volkes“ noch ausstünde – eine „Geschichtslüge“, wie die Unterzeichner zu Recht schreiben: „Die DDR war eine kommunistische Diktatur, und die Bundesrepublik ist eine freiheitliche Demokratie.“
Psychoanalytisch gesehen ist gerade „das Absurde“ besonders ergiebig, da hier das Unbewusste spricht. Es lässt sich lesen nach den von Freud für die Traumdeutung erkannten Dynamiken der Verschiebung, Verdichtung und Verdrängung.
Epochenreste der DDR und auch der NS-Zeit
Jede Verschwörungstheorie spiegelt in den Alltag hineinkatapultiertes Material aus Alpträumen, die ihrerseits Ursachen haben, und so verhält es sich mit dem reichhaltigen „Traummaterial“, das die Aussagen der AfD darbieten. Durchschaubar ummanteln inzwischen pragmatisch realpolitisch klingende Konzepte die wirksamen Partikel, den „absurden“ Kern der Aussagen.
Die Binnenlogiken des Absurden, seine Phantasmen und Widersprüche sind aufschlussreich, leuchtet man in das Assoziationsgeflecht hinein, das aus Reizvokabeln besteht wie „Flüchtlinge“, „Asylbetrüger“ „Grenzöffnung“, „Umvolkung“, „Gleichschaltung“ „Wölfe“, „Nation“, „System“, Identität“ oder „Lügenpresse“.
Ambivalenzen und Inkonsistenzen, halb verarbeitete Epochenreste der DDR und auch der NS-Zeit sind, samt Scham, Schuldgefühlen und Ängsten, prägend für das Absurde in der AfD, für ihre Wunschträume wie Alpträume. Träume gilt es zu entschlüsseln. Sie reden nicht über die Kanzlerin, wenn sie über „Merkel“ reden, nicht über heutige Flüchtlinge, wenn sie über „Grenzen“ reden.
Sie reden nicht über die heutigen Medien, wenn sie von „Lügenpresse“ reden und von „Gleichschaltung“. Vielmehr geht es um unverarbeitetes Material aus der Vergangenheit. In Leserbriefen zu Kritik an rechter Politik sind Aussagen zu lesen wie: „Ihre Zeitung ist das Neue Deutschland“, oder: „Ich habe in der DDR gelernt was es heißt, dem Staat hörig zu sein. „Nun muss ich heute erleben welche Ergebenheit viele Journalisten diesem BRD-Regime zollen.“ Oder: „Ohne das eigene Gehirn zu benutzen wird alles nachgebetet, was Frau Merkel vorgibt. Das ist an Duckmäusertum kaum zu überbieten.“ Er denke da, schrieb einer, an seinen „Opa, der von Honecker nicht lassen wollte“.
Der Schriftsteller Uwe Tellkamp schrieb, Kritik an rechter Politik erinnere daran wie „Funktionäre des Schriftstellerverbands gegen missliebige Kollegen“ gesprochen hätten, an „gleichgeschaltete Presseorgane“, und er warnte vor einer „Gesinnungsdiktatur“.
Den Protest aus vollem Herzen nachholen
Tatsächlich hatte in der DDR keine Pressefreiheit existiert und erzwungen wurde der dauernde Kotau vor der Staatsführung. Jetzt darf jeder frei reden, und oft scheinen gerade die, die damals nicht fähig oder willens zu Widerstand waren, den Protest aus vollem Herzen nachzuholen, wie um die Scham über das frühere Schweigen zu überdecken. Jetzt darf man öffentlich und namentlich klagen, beanstanden, sich empören, demonstrieren, aufbegehren und das im weiten Rahmen des Rechts an jede Zeitung schicken, öffentlich und mit eigenem Namen, ohne Repressalien zu befürchten.
Allerdings haben in der Demokratie auch die Anderen das Recht auf freie Meinung, auf Kritik. Diese wiederum wird attackiert wie von missachteten Zensoren, als sei die demokratische Freiheit der Feind. Im nachgereichten Protest wird am falschen, am verschobenen Objekt, ausagiert, was nicht verarbeitet ist, und das ist Beleg für dafür, dass bei einem Teil der Bevölkerung die Wende tatsächlich noch nicht vollendet ist – die Wende zur Demokratie.
Sie reden nicht über Wölfe, wenn sie über „Wölfe“ reden. Im Januar 2018 hatte die AfD in einer Anfrage an den Bundestag vor der Zunahme von Wölfen gewarnt, die die Tiere zur „artfremden Lebensweise“ brächte. Unterschieden werden müsse in Deutschland zwischen echten Wölfen und „Unterarten bzw. Mischlingen, die keinen Schutzstatus haben“.
Kaum codiert ist in der Rede vom Totemtier des NS der Rassismus, auf dem die verschiebende Erzählung fußt. Beim Kyffhäusertreffen der AfD im Juni 2018 lud Bernd Höcke ein zur Identifikation mit der mächtigen Märchenfigur: „Heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.“
Sie reden nicht von heutigen Grenzen, wenn sie von „Grenzen“ reden. Extreme Empörung rief bei der AfD die „Grenzöffnung“ hervor, die „illegale“ von Ende 2015. Im Dauerrufen nach Grenzschließung und Absperrungen offenbart sich auch ein hochambivalentes Verhältnis zur einstigen Mauer. Deren Durchbrechen sollte den Weg zu den Konsumpalästen des Westens bahnen, und es kam so.
Offene Grenzen, freie Mobilität - ein Wunschtraum der eingezäunten Bevölkerung war in Erfüllung gegangen. Dass Grenzsperren einfach eingerannt werden konnten, wie beim „Europäischen Picknick“ in Ungarn oder in der sagenhaften Nacht mit dem Schabowski-Ausspruch „Das gilt ab sofort…. unverzüglich...“, das war wie ein Wunder und der Jubel war laut.
Doch das Fehlen der Mauer brachte dann Unruhe, Risse und Brüche, eine Lawine von Veränderungen. Keiner kontrollierte das. Keine schützende Wand mehr hegte das Geschehen ein. Das löste Ängste aus. Und ein Teil des DDR-Selbst wird, bewusst oder unbewusst, ein schlechtes Gewissen gehabt haben.
Argwohn gegen die Demokratie überhaupt
Von klein auf erzogen, den Staat zu preisen, das einen ernährte, hatte man ihn schnöde verraten und war dem Klassenfeind in die Arme geflüchtet. Übertönt wurden Schuldgefühl und Ängste vom Stolz auf die gezügelte Kühnheit, mit der Tausende die Implosion der DDR beschleunigten. Warm war außerdem das Willkommen, es gab Umarmungen, Geschenke, Begrüßungsgeld. Not und Armut würden ein Ende haben!
2015 wiederholt sich das Szenario einer Grenzöffnung. Diesmal durchbrachen andere Gruppen die Absperrzäune, andere Flüchtende drängten aus Not und Armut ins bessere Leben. Jetzt waren diese Leute willkommen und jetzt wurden deren Leidenswege erzählt. Die laufen ihrem Land davon und kassieren unverdient Staatsgelder - wie damals die Ex-DDR-Bürger. Und jetzt konnten Illoyalität und Übertretung am verdrängten Anderen geahndet und bestraft werden, am „Fremden“.
Bejubelte man damals die humanitäre Lücke im Zaun, beschimpft man nun die skandalöse Lücke im Rechtsstaat, vom Verlust an Souveränität, der dem „System Merkel“ ebenso angelastet wird, wie „Brüssel“, der Europäischen Union. Argwohn richtet sich gegen vermeintlichen „kollektiven Rechts- und Verfassungsbruch auf breiter Basis“, Argwohn gegen die Demokratie überhaupt.
Rechte reden nicht von Migranten, wenn sie „Umvolkung“ sagen. Doch eine tatsächliche „Umvolkung“ hatte es nach der Wende gegeben, als Abertausende, vor allem Frauen und gut Ausgebildete, in den Westen eilten, und als von dort Funktionseliten kamen, um zentrale Posten im Osten zu beziehen.
Die Wende attackierte Selbstbewusstsein und Selbstverständnis
Wer älter war, fester verankert oder weniger alert, dem konnte schwindlig werden bei diesem rasanten „Bevölkerungsaustausch“, einem traumatischen Angriff auf das gewohnte Gefüge. Man war „nicht Herr im eigenen Haus“, wie Freuds Metapher für das Unbewusste lautet. Wie beim Träumen verschiebt sich auch dieser Inhalt heute auf „die Fremden“. Aus dem Schock durch die Verwestlichung des Ostens wurde Hass auf die fantasierte „Islamisierung des Abendlands“.
Es geht nicht um den Osten, wenn die Ost-AfD „Identität“ sagt. Angeblich bedroht wird die Identität des gesamten „deutschen Volkes“ aktuell durch unkontrollierte Zuwanderung. „Den Prozessen, die auf die Zerstörung unserer Identität abzielen, ist entgegenzutreten“, verkündet die AfD Thüringen im Aufruf „gegen ein multikulturelles Deutschland.“
Nachgerade eliminiert worden war in der Tat eine deutsche Identität, und zwar die ostdeutsche Identität der einstigen DDR. Die Wende attackierte Selbstbewusstsein und Selbstverständnis vor allem der Mehrheit, die sich mit der DDR arrangiert hatte. Wofür Bürgerinnen und Bürger gestern noch die Winkelemente geschwenkt und die Straßenränder gesäumt hatten, das besaß heute keinen Wert mehr.
Kein Wunder, dass sich die Bürgerrechtler von damals wundern.
Ratlos stehen sie vor den Ressentiments der neuen Rechten im Osten, denn sie teilen sie nicht. Warum? Weil sie aktiv waren, Widerstand leisteten, wussten, was Demokratie bedeutet und sich nicht mit der DDR identifiziert hatten. Daher müssen sie heute nicht mit Scham und Schuldgefühlen hadern, mit Wut, Strafangst und Hass auf eigene Passivität und Mitläufertum in der Gesinnungsdiktatur der Vergangenheit.
Das Paradox der Putin-Verehrung im Osten
Das größte Paradoxon, und ein starkes Symptom für die ambivalente Verarbeitung der DDR-Epoche ihrer Biographien, ist die Zuneigung der AfD-Getreuen vor allem im Osten für die „gelenkte Demokratie“ unter Vladimir Putin. Während der auf dem Grundgesetz basierende demokratische Konsens als „BRD-Regime“ denunziert wird, scheint der teilautoritären Willkürherrschaft in Russland eine gewisse Nostalgie zu gelten: Das riecht vertraut nach dem behüteten Früher.
In einem Text, den die Philosophin Agnes Heller kurz vor ihrem Tod am 19. Juli für das Europäische Forum Alpbach 2019 verfasst hatte, ging es um Freiheit und Demokratie.
Illusionslos warnte Heller, Holocaust-Überlebende aus Ungarn: „Freie Menschen können ihre eigene Unfreiheit wählen“. Menschen seien auch „frei, sich Diktatoren, Tyrannen, Oligarchen und totalitären Regimen zu unterwerfen“. Wenn sie das wollen und wählen, hat es Ursachen. Die zu erkennen kann ein Schutz sein für die Demokratie.