Schwerste Unruhen seit 40 Jahren: Was die Proteste im Iran so außergewöhnlich macht
Die Massenproteste im Iran haben sich an einer Erhöhung der Benzinpreise entzündet. Tatsächlich aber geht es um viel mehr. Ein Gastbeitrag.
Der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad ist Visiting Fellow am Brookings Doha-Center, der Niederlassung der US-Denkfabrik Brookings in Katar.
Ali Zia, ein bekannter junger Moderator des iranischen Staatsfernsehens, brachte es kurz nach der Verdreifachung der Benzinpreise am 15. November auf den Punkt: „Unsere Verantwortlichen vergleichen unsere Taxipreise mit denen in New York, den Benzinpreis mit dem in London, die Mieten mit denen in Paris… Aber wenn es um die Gehälter geht, ziehen sie den Vergleich mit Äthiopien.“
Es war eine ungewöhnlich scharfe Satire für die staatlich gesteuerten Medien, aber es sind auch ungewöhnlich harte Zeiten für die Iraner, die unmittelbar nach der überraschenden drastischen Preiserhöhung auf die Straßen gingen, um auf ihre Misere aufmerksam zu machen. In ungefähr 100 Städten gab es Proteste. Die Demonstranten wurden allerdings vom Regime als „Randalierer“ regelrecht zum Abschuss freigegeben. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit – einer totalen Internetsperre, die die Regierung kurz nach Ausbruch der Proteste verhängte – reagierte das Regime mit nackter Gewalt. Menschenrechtsorganisationen befürchten weit über 200 Tote und sorgen sich, dass den über 7000 Festgenommen Folter oder gar Hinrichtungen drohen.
Iran ist weiterhin eines der Länder, in denen der Benzinpreis am günstigsten ist. Doch Haushalte mit niedrigem Einkommen stehen immer stärker unter wirtschaftlichem Druck, zumal diese Preiserhöhung auch andere Güter verteuert. Mindestens die Hälfte der Iraner leben an der Armutsgrenze. Die Jugendarbeitslosigkeit und die Inflation sind extrem hoch, die Gehälter niedrig. Gleichzeitig stiegen in den letzten Jahren die Lebensmittelpreise, die Einkommensschere wurde größer, die Korruption blieb hoch.
Zwar hatte die Regierung versprochen, die Gewinne aus der Benzinpreiserhöhung auf 18 Millionen bedürftige Haushalte umzuverteilen, also auf etwa 60 Millionen Menschen (womit sie die Notlage vieler Iraner implizit eingesteht). Doch die geplante Kompensation wird weder in der Breite noch in der Tiefe dem Regierungsversprechen einer Entlastung gerecht. Das ahnten die Menschen, die sofort auf die Straße gingen. Der Protest ist Ausdruck eines tieferliegenden Misstrauens gegenüber der iranischen Führung und ihren Versprechen.
Die überstürzte Preiserhöhung war wohl einem überdehnten Haushalt geschuldet. Die US-Sanktionen haben die für den Iran so wichtigen Öleinnahmen einbrechen lassen. Gleichzeitig verweigern sich aber halbstaatliche Institutionen – jene Wirtschaftsimperien, die mit den „religiösen Stiftungen“, den Revolutionsgarden und dem Obersten Führer Ali Chamenei verbunden sind – weiterhin der Rechenschaft und der Besteuerung. Stattdessen langt die staatliche Elite nun in die ohnehin leeren Hosentaschen der Bevölkerung.
Repressionen des Regimes
Die neue Welle von Protesten erinnert an die Proteste, die die Islamische Republik zum Jahreswechsel 2018 erschüttert hat. Sie ebbten damals nach ungefähr einer Woche wieder ab, zum einen wegen der staatlichen Repressalien, zum anderen, weil sich die Mittelschicht nicht beteiligte. Der November-Aufstand muss aber als Fortführung dieser Welle verstanden werden. Auf die wirtschaftliche Notlage und die politischen Forderungen ist das Regime bis heute nicht eingegangen. Damals wie heute entwickelten sich die Proteste sofort zu Anti-Regime-Demonstrationen, die auf alle Flügel zielte: auf die sogenannten Moderaten ebenso wie auf die Hardliner. Auch damals breiteten sie sich wie ein Lauffeuer aus.
Diesmal aber ist es viel ernster, was auch die panische und brutale Reaktion des Regimes zeigt. Denn im Gegensatz zum Januar 2018 gingen diesmal sogar nach den eher konservativen Angaben des Innenministeriums bis zu 200.000 Menschen auf die Straße – fünf Mal mehr als damals. Die Demonstranten sind furchtloser geworden und äußern ihren Zorn offener: Es wurden unter anderem Bilder des Revolutionsführers verbrannt und eine Statue des Gründers der Islamischen Republik, Ajatollah Khomeini. Wer genau für die hohe Zahl weiterer Sachbeschädigungen verantwortlich ist – seien es jene, die als Symbole der Repression des Regimes gelten oder rein zivile – bleibt unklar. Obwohl der Volkszorn aufgrund des akkumulierten Drucks gestiegen ist, gibt es Hinweise darauf, dass die Sicherheitskräfte selbst zum Teil randaliert haben, um es den Demonstranten in die Schuhe zu schieben.
Regierung greift hart durch
Im Übrigen verliefen die Proteste überwiegend friedlich, wie Amnesty International unterstrich. Die Regierung hingegen griff unverhältnismäßig hart durch, viele der Opfer wurden durch Kopfschüsse regelrecht hingerichtet.
Der Anstieg des Benzinpreises hat im Iran erneut die kollektive Unzufriedenheit Licht ans gebracht. Wieder und wieder hat das Regime das Hoffen der Iraner auf soziale Gerechtigkeit und den Kampf gegen Korruption und Nepotismus zunichtegemacht. Die Islamische Republik befindet sich in einer immer tieferen Legitimationskrise und sichert ihre Herrschaft zunehmend mit nackter Gewalt.
Entscheidend ist dabei, dass die Iraner weiterhin zuerst ihre eigenen Herrscher für ihr wirtschaftliches Elend verantwortlich machen – und nicht Kräfte von außen. Die US-Sanktionen haben zwar den iranischen Haushalt hart getroffen, die wirtschaftliche Situation der Durchschnittsiraner hat sich verschlechtert. Die Ursache für die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Iraner oder für landesweite Proteste sind die Sanktionen allerdings nicht – anders als die Funktionäre in Teheran, Washington, aber auch Europa behaupten.
Wendepunkt für den Iran
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Aufstand der Iraner einen Wendepunkt für die Islamische Republik darstellt. Denn das Regime bleibt weiterhin reformunfähig und ist nicht in der Lage (oder besser: willens), die wirtschaftliche und politische Misere des Landes zu lindern. Der nächste Ausbruch des Volkszorns bleibt somit nur eine Frage der Zeit.
Nicht zuletzt war das Schweigen Europas ob des Blutbads in Iran ohrenbetäubend. Man versteckte sich hinter diplomatischen Floskeln und sandte somit ein verheerendes Signal.
Wusste man nicht, dass im Iran noch während der Proteste ein nationaler Blutversorgungsnotstand ausgerufen wurde? Hatte man die alarmierenden Berichte von Amnesty nicht wahrgenommen? Man hätte zu seinen Werten stehen müssen – und die Brutalität des iranischen Staates verurteilen und mit Konsequenzen drohen müssen. Dafür ist es aber noch nicht zu spät.
Übersetzung: Tilman Schröter
Ali Fathollah-Nejad