Eine Million Flüchtlinge in Deutschland: Was bleibt von der Kulturnation?
Niemand verlangt von asylberechtigten Syrern, beim Christopher Street Day mitzulaufen oder den Müll perfekt zu trennen. Doch Integration ist mehr als die Vermittlung von Sprach- und Gesetzeskenntnissen. Ein Kommentar
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre waren 51 Jahre lang ein Paar, lebten aber nie zusammen. Als Grund dafür sagte Simone de Beauvoir: „Wir sahen keine Notwendigkeit, uns eine gemeinsame Wohnung zuzulegen. Wir teilten doch die Welt miteinander.“ Das ist romantisch, poetisch, idealistisch. Trotzdem gibt es so etwas wie Nähe, die nicht durch physische Nähe entsteht, sondern durch unsichtbare Bande – den Glauben, die Ideologie, Kultur, Sprache, Sozialisation, Tradition, das Geschlecht, einen Fußballverein. Da liegen sich dann Gleichgesinnte plötzlich in den Armen, die sich bei anderen Themen lustvoll in die Haare kriegen.
„Wir sind ein Volk“, skandierten die Menschen in der DDR vor 25 Jahren. Und in Artikel 35, Absatz 1 des Einigungsvertrages steht: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag.“ Willy Brandt prägte damals den Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Denn schon während seiner Zeit als Bundeskanzler vertrat er die Ansicht, dass es eine „System übergreifende fortbestehende deutsche Kulturnation“ gebe, die als „einigendes Band“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR wirken könne.
Die Schutzsuchenden haben noch nichts gehört von Trümmerfrauen. Sie kennen nur Merkel und VW
Kulturnation, was ist das? Der Begriff schwingt meist unausgesprochen mit in der neuen deutschen Diskussion über die Identität und den Charakter dieses Landes angesichts von rund einer Million Zufluchtsuchender in diesem Jahr. Viele von ihnen sind jung, männlich, muslimisch. Andere wurden als Christen im Irak oder in Eritrea verfolgt. Kaum einer der Neuankömmlinge wird aber je von den deutschen Trümmerfrauen, dem 20. Juli 1944, der Kontroverse um das Holocaust-Mahnmal, dem Historikerstreit, dem 17. Juni 1953, der Stasi-Unterlagenbehörde oder der Friedensbewegung gehört haben. Das globale Image von Deutschland reduziert sich auf Angela Merkel, VW, Bayern München, Oktoberfest. Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmung sind kurzfristig nicht zur Deckung zu bringen.
Nähe entsteht durch gemeinsame Erfahrungen
Der Historiker Friedrich Meinecke unterschied 1908 zwei Typen der Begründung einer Nation – Staatsnation und Kulturnation. Frankreich stand für die Staatsnation, Deutschland für die Kulturnation. Schon kurze Zeit später allerdings wurde der Begriff „Kulturnation“ völkisch aufgeladen und rassistisch konnotiert. Das entwertete ihn. Kulturnation sei „Blutsgemeinschaft soft“, meint der Philosoph Wolfgang Welsch. Doch ganz banal verstanden als eine Gemeinschaft, die sich durch einen bestimmten Erfahrungsschatz miteinander verbunden fühlt, hat er seine Berechtigung. Juristisch wiederum findet er Niederschlag im Bundesvertriebenengesetz. Deutscher sei, heißt es dort, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“.
Niemand verlangt von den Neuankömmlingen, dass sie beim Christopher Street Day mitlaufen
Eine Mehrheit der Deutschen will den Flüchtlingen helfen. Es gibt sie, die Willkommenskultur. Und es ist perfide, sich über das Engagement der vielen Freiwilligen lustig zu machen. Ebenso perfide ist es aber auch, denen, die sich Sorgen machen um das Gelingen der Integration so vieler Menschen in so kurzer Zeit, Herzlosigkeit zu unterstellen. Wahrscheinlich schlagen derzeit in vielen deutschen Brustkörben zwei Herzen, das der Hilfsbereitschaft und das der Angst vor Überforderung. Denn es gibt auch sie, die Mühen der Ebene: Nicht einmal jeder zehnte Flüchtling bringt die Voraussetzung mit, um direkt in eine Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden; ihr Verhältnis zu Israel, Frauen, Homosexuellen ist oft radikal anders; wird es bald auch Kopftuch tragende Richterinnen in Deutschland geben, wie der ehemalige Berliner Verfassungsrichter Klaus Finkelnburg prognostiziert?
Im Osten Deutschlands werden solche Fragen offener angesprochen als im Westen. Dort – wie in Osteuropa, Skandinavien, Großbritannien und Frankreich – werden die Einwände ungeniert, gelegentlich auch aggressiv vorgetragen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2013 („Radar des gesellschaftlichen Zusammenhalts“) ist das Gemeinschaftsgefühl der Deutschen eher niedrig ausgeprägt. Und nirgendwo identifiziert sich die Bevölkerung so wenig mit ihrem Land wie hier. In diesem Punkt bilden die Deutschen das Schlusslicht von allen 34 untersuchten Ländern. Folgt aus der Geringschätzung des eigenen Gemeinwesens die bedingungslose Umarmung möglichst vieler Fremder?
Um Deutscher zu werden, reicht es, sich an unsere Gesetze zu halten, sagen die Minimalisten. Doch selbst traditionelle Einwanderungsländer wie Neuseeland, Kanada und die USA vermitteln bei der Integration weit mehr als Sprach- und Gesetzeskenntnisse. Die „deutsche Leitkultur“ braucht keine Wiederbelebung. Niemand verlangt von asylberechtigten Syrern, beim Christopher Street Day mitzulaufen, den Müll perfekt zu trennen oder das Schuhplattlern zu lernen. Doch eine Ahnung von den Traditionen jener Welt, in die sie aufgenommen werden wollen, sollten sie bekommen. Zum Wohle aller.