Einwanderung und nationale Identität: Die Leitkultur stirbt nicht, sie modernisiert sich nur
Auch buntgemischte Nationen brauchen eine nationale Identität. Aber eine ohne Blut und Boden. Wir sollten uns drauf freuen. Ein Kommentar.
Wer sie sich nicht gerade mehr oder minder in Unschuld wäscht, der hat in diesem Teil der Welt zurzeit alle Hände voll damit zu tun, die Folgen der größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen, will sagen: Hunderttausende, die hier stranden, elementar zu versorgen, ihnen ein Dach, notfalls ein Zeltdach, über dem Kopf zu geben, warmes Essen und ärztliche Hilfe zu organisieren. Und sie danach in Wohnungen unterzubringen, in Sprachkursen, die Kinder in Schulen, ihre Eltern, inschallah, in Arbeit.
Es ist wohl dieses verständliche Überbeschäftigtsein mit dem Naheliegenden, mit dem Aufbau neuer Stellen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, mit Zeltstädten und Wohnraum, das die Republik davon abhält, einen Schritt weiterzudenken. Darüber, wie sie aussehen wird, wenn sie noch „diverser“ wird. Und was sich aus Deutschlands neuem Gesicht für die neue Organisation des Zusammenlebens ergibt.
Man kann da, untypisch deutsch, aufs Durchwurschteln setzen: Das Ding gehen wir an, wenn es sich zeigt. Der Geschmack einer Pastete erweist sich bekanntlich beim Essen, warten wir doch ab, bis wir den ersten Bissen geschluckt haben. Diese Lösung ist gefährlich, denn tatsächlich ist es ja nicht ganz Deutschland, das keine Zeit zum Nachdenken hat.
Eine teils aggressive Rechte tut das durchaus und kommt zu Schlüssen, deren Verwirklichung man sich nicht nur nicht wünschen kann, wenn man es gut mit diesem Land meint, sondern die auch vollends unrealistisch sind: Kleinhalten, Geld streichen, „Raus mit denen!“ – das blamiert sich, ebenso kindisch wie bösartig, in diesen Wochen vollends vor der Wirklichkeit. Weder Dublin noch smarte digitale Grenzen noch Ungarns Stacheldraht konnten einen Bypass ums, im Doppelsinne, alte Europa legen. Liebe Nazis und mitlaufende Kameradinnen und Kameraden: Verabschiedet euch endlich von eurer Lieblingsparole!
Wer sind wir? Das fragt man in Duis- wie in Johannesburg
Während die Rechte weiterhin hofft und brüllt, dass Wasser doch noch lernen wird, bergauf zu fließen, denkt das große bessere Deutschland nicht einmal leise über eine Enquête-Kommission „Bundesrepublik 2050“ nach, stehen Leitartiklerinnen, die sich damit beschäftigen wollen, unter Altkanzler-Schmidt-Verdacht: Wer Visionen hat, gehe zum Arzt.
Dabei brauchte es gar keine Visionen, manchmal genügt die Vermessung der Welt, um auf Ideen zu kommen. Wachsende „Diversität“ nämlich ist nicht nur die Zukunft unseres alten Kontinents, die ethnische, religiöse, kulturelle Vervielfältigung ist ein globales Phänomen, in Johannes- wie in Duisburg, sie lässt sich an vielen Orten beobachten und lernen. Nationale Identität wird weltweit immer flüssiger, wie diejenigen feststellen, die diese Entwicklung kartografieren, Soziologen, Historikerinnen, Sozialpsychologen. Gleichzeitig wird sie, womöglich überraschend, nicht eher immer nötiger. Nur eben anders.
Chinesisch und schottisch: Für Schotten kein Problem
Was hält Gesellschaften zusammen, wenn es die „nationale Identität“ aus gleicher Geschichte und Herkunft nicht oder nicht mehr ist? Damit beschäftigten sich in letzter Zeit gleich mehrere Forschertreffen in und um Berlin. Ein Kongress an der Universität Potsdam fragte vor Wochen nach dem Wesen von Bürgerschaft und wie dieser Status sich unter dem Einfluss von Masseneinwanderung und Postindustrialisierung verändere („The Changing Nature of Citizenship“).
Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung spürten in dieser Woche Forscher aus aller Welt „Nationaler Identität in Bewegung“ nach. Einer der interessanten Befunde lautete: Bewegung ja, aber kein Verschwinden. In Schottland zum Beispiel wurden in einer Befragung chinesische Schotten desto eher akzeptiert, je schottischer sie fühlten beziehungsweise dies ausstrahlten. Ein urschottisches Aussehen fordert das neue Nationalgefühl wohl nicht mehr.
Deutsche sind pragmatisch, US-Bürger wollen Liebe
Und die und der durchschnittliche befragte Deutsche findet es, man staune, durchaus akzeptabel, Leute einzubürgern, die sich für Deutschland nicht enthusiastisch, sondern ganz pragmatisch entscheiden. US- Amerikaner dagegen bestehen auf Liebesbeweisen zur Nation.
Die Leitkultur stirbt also gar nicht, sie modernisiert sich nur. Wohin? Wer weiß. Einen Masterplan braucht’s sicher nicht für die Bunte Republik Deutschland. Aber ein bisschen nachzudenken, was sich hier ändern muss, kann nicht schaden – Stichwort Rassismus. Stimmt schon, dass sich der Geschmack der Pastete beim Essen erweist. Aber wenn das Rezept stimmt und der Koch was von der Sache versteht, kann das dem Geschmackserlebnis nur guttun.