Vor der Parlamentswahl: Was bewegt Russland außer Putin?
Nach den Wahlen 2011 erlebte Russland die größten Proteste seiner Geschichte. An diesem Sonntag wird wieder abgestimmt. Doch heute ist alles anders. Eine Analyse.
Über Russland lässt es sich ausgezeichnet streiten. So kontrovers ist dieses Land, dass es sogar Brücken bauen kann, die mehr trennen als verbinden. Die Brücke über die Straße von Kertsch wird 19 Kilometer lang, sie wird die Krim mit dem Mutterland verzahnen – und Russland weiter von Europa entfernen.
Die Annexion der Krim im März 2014 markierte den Kulminationspunkt des neuen Ost-West-Konflikts. Auf die Russen selbst aber hat dieser Konflikt, hat all der Streit um ihr Land einen seltsamen Effekt: Er lässt ihre Lebenswelten auseinanderdriften – und einigt sie gleichzeitig politisch so stark wie nichts zuvor. Auch und vor allem auf der Krim selbst. Dort beginnt die Reise.
Zur Promenade von Sewastopol geht es über hügelige Straßen, vorbei an einem Plakat, auf dem in riesigen roten Lettern auf weißem Hintergrund steht: „Russland ist uns mehr als die ganze Welt!“ Der Taxifahrer – Halbglatze, wacher Blick – hupt sich den Weg frei. „Wie es hier läuft, können wir ernsthaft beurteilen, wenn die Brücke fertig ist. Wir sind doch gerade abgeschnitten von allen, von der Ukraine und von Russland.“ Er stoppt, fährt wieder an und erklärt, dass die Ukrainer es auch gerade nicht leicht hätten. „Es ist schon gut, dass wir zu Russland gehören. Immerhin gibt es hier keinen Krieg.“
An den Krieg im ostukrainischen Donbass, zwischen der Ukraine und prorussischen Separatisten, erinnert an der Promenade ein schmächtiger Junge, der Flöte spielt und auf den Korb vor sich ein einziges Wort gepinselt hat: Donezk. Touristen schmeißen Münzen, für den Krieg, für den Frieden, für die russische Sache außerhalb Russlands. Dann schlendern sie weiter; oder steigen auf ein Ausflugsbötchen, das zu den riesigen Truppentransportern und Kreuzern der Schwarzmeerflotte fährt, den Stars der Stunde, während die Sonne romantisch hinterm Horizont verschwindet, als roter Ball mit orangen Untertönen.
Die Annexion der Krim? Ein Grund zu feiern
Der Mann, dem sie all das zu verdanken haben, blickt von Plakaten auf der ganzen Krim, oft streng, bisweilen gütig. „Wir wollen die Krim und Sewastopol zu dynamisch entwickelten Subjekten der Russischen Föderation machen“, sagt der Präsident da etwa. Oder er schaut von einem Graffiti als oberster Matrose ins weite Meer und sagt: „Die Krim, das ist unsere gemeinsame Errungenschaft.“ Ganz Russland feiert sich seit der Annexion selbst. Die Krim aber feiert Putin.
Im Dezember 2011 wählten die Russen ein neues Parlament – und überraschten anschließend die Welt und sich selbst mit den größten politischen Protesten in der Geschichte des Landes. Es ging gegen Wahlfälschungen, aber vor allem auch gegen die Transformation ihres Landes in eine straffe Autokratie. Am 18. September stehen nun erneut Duma-Wahlen an – und der Protest ist tot.
An der Großen Moskwa-Brücke in der Hauptstadt steht an dem heißen Sommertag ein Mann mit weißem Rauschebart dort, wo im Februar 2015 Boris Nemzow ermordet wurde. Es stehen dort Bilder des Oppositionspolitikers, einige Rosen liegen auf dem Asphalt – nur die russische Flagge darf der Mann nicht schwenken. Er holt sie kurz raus und packt sie wieder ein. „Diese Verbrecher!“ Er zeigt auf den nahen Kreml. „Wenn hier Flaggen hängen, kommt die Polizei und fragt, wem sie gehören. Wenn ein Aktivist sagt: ,mir!’ – nehmen sie ihn mit. Wenn niemand sagt: ,mir’, nehmen sie die Flaggen mit.“ Vor einem Jahr säumten die Rosen noch den ganzen Weg zum Roten Platz, hingen hier noch Flaggen. Heute haben Andersdenkende ihr Recht auf Nationalstolz verwirkt.
Moskau indes, in Zeiten des neuen Kalten Krieges, ist eine sehr westliche Stadt. Fußgängerzonen und Radwege entstehen, die basarartigen Büdchen vor Metrostationen werden abgerissen. Die Straßen sind ordentlicher als in Berlin, die Wolkenkratzer höher als in London. Moskau ist Stadt, aber auch Staat im Staate, und heute mindestens so weit weg von der Provinz wie zu Sowjetzeiten. Damit der Draht dorthin, ins weite Land hinein, nicht ganz abreißt, geht die Regierung vor allem vor den Wahlen selbst dorthin.
200 Kilometer östlich von Moskau – mitten im Wald, an einem idyllischen Flüsschen – findet das zweite „Allrussische Bildungsforum Territorija Smyslov“ statt, was frei mit „Ort der Sinnsuche“ zu übersetzen wäre. Etwa 1000 „junge Abgeordnete und und politische Leader“ treffen sich zum Gedankenaustausch untereinander und mit der politischen Elite. Es gibt Diskussionen und Vorträge, so auch einen des Politologen Sergei Markow. Zu abendlicher Stunde tritt er ans Mikrofon. „Wir haben im Land ein Paradox“, erklärt Markow. „Die Zustimmung zum Kurs des Präsidenten ist sehr groß.
Systemopposition
Aber trotzdem reißt einem nennenswerten Teil der Bevölkerung der Geduldsfaden.“ Der größte Unterschied zu 2011 sei, „dass die Parteien sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern den äußeren Feind USA“. Diese wollten die Wahlen sabotieren – und langfristig Russland zu Fall bringen und aufteilen. „Deutschland bekommt nach dem Plan des Westens Königsberg“, erklärt Markow vor hunderten jungen Entscheidern. Niemand widerspricht.
Es ist ansonsten eine durchaus aufgekratzte Atmosphäre, die im Ort der Sinnsuche herrscht. Die Regierung versucht sich an der Quadratur des Kreises: echte Debatten, harte Kritik an den Mächtigen und ein Wettbewerb der Ideen sollen es bitte schön sein, obwohl niemand am Ausgang der Wahlen zweifelt – und obwohl natürlich keine Veränderung der Machtstrukturen stattfinden darf. So können neben Einiges Russland auch die drei anderen in der Duma vertretene Parteien mitmischen, die Kommunisten, die radikale LDPR und Gerechtes Russland. Politologen nennen sie „Systemopposition“ – weil sie sich mit der Macht arrangieren, statt nach ihr zu streben.
Wirkliche Oppositionsparteien treten zwar an – aber keine von ihnen kommt in Umfragen des anerkannten Levada-Zentrums auf mehr als ein Prozent der Stimmen. Einiges Russland liegt bei etwa 40 Prozent aller Wahlbeteiligten. Von den Russen, die sicher zur Wahl gehen wollen und sich schon entschieden haben, würden sogar knapp 60 Prozent für die Kreml-Partei votieren. Die Zustimmungsraten für Präsident Putin liegen konstant bei mehr als 80 Prozent.
Damit die Wahlen trotzdem welche werden, wurde Ella Pamfilowa als Leiterin der Wahlkommission engagiert. Vor dem Politnachwuchs listet sie auf, wieso es diesmal demokratischer laufen könnte. „Die Sitzungen der Wahlkommission werden live übertragen. Journalisten sind in allen Phasen und überall zugelassen. Wir haben ein Beschwerdetelefon und gehen jeder einzelnen gemeldeten Manipulation nach. Zum ersten Mal wird auch auf die TV-Zeit der Parteien geachtet.“ Pamfilowa sagt das mit lauter, bestimmter Stimme. Nicht nur sie, auch viele kremlkritische Beobachter erwarten, dass weniger manipuliert wird als früher. Die Machtbasis von Putin und Einiges Russland könnte so stark sein, dass sie sich vergleichsweise faire Wahlen leisten.
Die Welt zu Gast in Russland
Weiter ostwärts führen durch Russland viele neue Fernstraßen in aufgehübschte Städte wie Kazan und Jekaterinburg. Die größte Metropole am Ural wird östlichster Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2018, wenn Russland die Welt zu Gast hat, falls die Welt noch will. Das Stadion in Jekaterinburg wird offiziell nur umgebaut, doch wer daran vorbeischlendert, hat mehr das Gefühl, dass nicht nur die Arena, sondern das ganze Viertel drum herum neu errichtet wird. Unaufhörlich rattern die Presslufthämmer. Eine Frau bleibt stehen, schüttelt den Kopf und murmelt: „Die machen das Stadion schon wieder neu?!“ Ungläubig zieht sie weiter. Der letzte Umbau ist nicht lange her. Stetig wird in Russland gebaut, und vielerorts sieht es so westlich aus, dass der ganze Konflikt mit dem Westen so absurd erscheint, als würden Bremen und Hamburg einander bekriegen.
Es treten zur Wahl auch zahlreiche Kleinstparteien an. Natürlich haben sie keine Chance, doch hinter den meisten verbergen sich nennenswerte gesellschaftliche Strömungen. Die „Rodnaja Partija“ – Heimische Partei – entstammt der Anastasia-Bewegung, bei der traditionelle slawische Familienwerte, ökologisches Bewusstsein und New-Age-Botschaften zueinanderfinden. Mehr als 300 Siedlungen haben die Anastasianer mittlerweile in ganz Russland gegründet, in denen sie zumeist ohne Alkohol oder Fleischkonsum auskommen, dafür in kinderreichen Familien traditionelles Handwerk hochhalten. Die Anastasianer berufen sich gerne auf die Aussage des russischen Premierministers Dmitri Medwedew, wonach es in einem so riesigen Land nicht sein könne, dass alle Menschen in den Städten lebten und es besser sei, wenn sich die Bürger zerstreuten.
Eine solche Siedlung ist Blagodatnoje, was übersetzt etwa „das reichlich Gebende“ heißt. Eine Stunde von der sibirischen Großstadt Nowosibirsk entfernt leben dort auch viele Familien, die früher ein gutes Auskommen in den Städten hatten. So wie Anja, 33, die mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern seit vier Jahren dauerhaft in einem großen Holzhaus in Blagodatnoje wohnt. Früher war sie Anwältin. „Manche meiner Freunde sind nach Moskau gegangen, andere nach Europa, aber wir haben andere Ziele. Wir finden hier zu uns selbst zurück“, sagt Anja, während im Hintergrund ihre Kinder auf einem Trampolin herumspringen.
Doch selbst die spirituell aufgeladenen Anastasianer sind in Russland zumeist erklärte Patrioten. Keineswegs wollten sie hier draußen aus der Gesellschaft ausscheren, erklärt Anja. Doch all das sei auch nicht zu wichtig zu nehmen. „Am Ende sind wir alle nur Tropfen auf den heißen Stein.“
Je weiter es durch Sibirien in den Osten geht, desto seltener werden urbane Ballungsgebiete, desto öfter ist der Satz „Moskau ist weit“ zu hören. Unweit des neuen Weltraumbahnhofs Wostotschny steigt Roman in einen Zug der Transsibirischen Eisenbahn. Schon hat er eine Dose Bier geöffnet. Schon erzählt er, ungefragt, weil es sich in ihm aufgestaut haben muss: „Die fliegen in den Weltraum, und wir müssen es hier auf der Erde ausbaden.“ Roman hat selbst gemachte Tattoos auf den Rückseiten seiner Finger. Er drückt die leere Bierdose zusammen. „Nein, ich war nicht im Knast. Ich bin nur ein Typ, der auf sich auf Baustellen durchschlägt.“
Endhaltestelle Wladiwostok
Roman guckt aus dem Zugfenster, wo das weite Nichts herrscht. Seit fünf Monaten war er nicht zu Hause, bei seiner Frau und den zwei Kindern. „Ich weiß nicht mal mehr, ob ich mich drauf freue.“ Dann kramt er ein neues Bier hervor und sagt: „Wir leben hier nicht. Wir überleben.“ Roman erklärt, dass er diesmal die LDPR von Wladimir Schirinowski wählen wird, einem Volkstribun, der die Grenzen der UdSSR wiederhaben will und live im Fernsehen Liberalen eins auf die Nase gibt. „Der sagt wenigstens die Wahrheit“, erklärt Roman, mit trotziger Stimme und glasigen Augen. Dann greift er in die Tasche, doch da ist nichts mehr. „Hast du noch was, für ein Bier?“
Der Zug kommt in Wladiwostok an. Endhaltestelle. Die Stadt ist voller chinesischer Touristen. Sie wurde anlässlich eines Wirtschaftsgipfels nicht nur aufgehübscht, sondern in eine richtige Pazifik-Metropole verwandelt. Es ist Wochenende, an der Promenade läuft ein Musikfestival und zwischen den Bands auf einer Videoleinwand ein Einspieler, der die Bürger erinnert: „All die vielen neuen Parks und Spielplätze scheinen uns heute selbstverständlich, aber sie wurden in den vergangenen Jahren gebaut. Unsere Stadt ist besser geworden. Werde auch du besser!“
Der prächtigste Neubau in Wladiwostok ist eine Brücke auf den Ostrov Russkij – die russische Insel – wo es eine neue Großuniversität und herrliche Strände gibt, mit schroffen Felsen und schwarzem Sand. An einer Mauer an der Brücke sind meterhoch die Umrisse der Krim aufgemalt, die hier so weit entfernt, doch immer nah ist. Daneben steht: Ostrov – Russkij. Krym – Rossijskij. In Russland.