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Die meisten Russen vertrauen heute wieder auf den Staat. Politik interessiert nur wenige.
© picture alliance / dpa

Parlamentswahlen in Russland: Zurück in die Sowjetunion

In einem Monat wählen die Russen ein neues Parlament. Der Ausgang dürfte klar sein: Das Volk ist auf Linie - der von Putin.

In einem Monat wählt Russland ein neues Parlament. Und die Voraussetzungen scheinen diesmal ganz andere als beim Urnengang im Dezember 2011. Damals schob sich nach den gefälschten Wahlen ein Meer aus Fahnen durch Moskau, Zehntausende harrten auf nasskalten Straßen im gesamten Land aus und skandierten immer wieder „Rossia bes Putina“ – Russland ohne Putin. Die Russen fühlten sich um ihre Stimmen betrogen. Von dieser Wechselstimmung ist so gut wie nichts übrig geblieben.

Einer der Anführer der Proteste, Boris Nemzow, wurde in Sichtweite des Kremls erschossen, der Bruder des Oppositionellen Alexey Nawalny als Faustpfand hinter Gitter gebracht. Geht es um Innenpolitik, winken die meisten Russen ab: kein Interesse. Viele der unter 30-Jährigen, die damals demonstrierten, haben heute Angst ihren Job zu verlieren und die Wohnung nicht mehr bezahlen zu können. Die beliebten Urlaubsreisen an das Mittelmeer oder in die Alpen sind für die junge, aufstrebende Mittelschicht unerschwinglich geworden. Einer Statistik der UN zufolge gaben die Russen 2015 rund 30 Prozent weniger für Urlaube aus.

Für die 23-jährige Marianna Ivanova sind die ökonomischen Schwierigkeiten trotzdem kein Grund, sich besonders mit den Wahlen zu beschäftigen. „Wenn du schon vorher weißt, dass sich nichts ändert, interessieren dich die Wahlen nicht sonderlich.“ Ivanova, die 2011 mit 18 Jahren an den Demonstrationen in St. Petersburg teilnahm, glaubt, dass die Verschlechterung der Lebenszustände mögliche Veränderungen eher verhindert.

Der Opposition ist der Zugang zu Medien faktisch verwehrt

Vor allem unter jungen Menschen würden die Sorgen wachsen, nach der Schule oder dem Studium auf das unzureichende Sozialsystem angewiesen zu sein. „Viele sehen Wladimir Putin jetzt in einer historischen Linie mit starken russischen Anführern“, erklärt sie. Gefälschte Wahlen fänden viele zwar nicht richtig, aber eben normal.

Selbst in den liberalen Hochburgen St. Petersburg und Moskau glaubt kaum jemand, dass es eine Überraschung geben wird. Der Opposition ist der Zugang zu Medien faktisch verwehrt, ein Wahlkampf unter diesen Umständen scheint aussichtslos. Auch positive Signale, wie die Neubesetzung der Spitze der Zentralen Wahlkommission im März, sehen viele kritisch. Zwar genießt die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa lagerübergreifend Anerkennung. Dass sie die kremlnahe Institution in eine unabhängige Kontrollbehörde umwandeln kann, trauen ihr aber in so kurzer Zeit nur wenige zu.

Präsident Wladimir Putin ist bemüht, die Wahlen frei und transparent erscheinen zu lassen.
Präsident Wladimir Putin ist bemüht, die Wahlen frei und transparent erscheinen zu lassen.
© dpa

Der Regierung ist es trotzdem wichtig, die Wahlen transparent erscheinen zu lassen. Die Putin-nahe Mehrheitspartei Edinaja Rossija – Einiges Russland – hält deswegen im gesamten Land Vorwahlen ab. Sie will sich als offene und demokratische Partei präsentieren. Ein Weg, den auch der junge Konstantin Ratchenko unterstützt. Er stellt sich im fernen Osten zur Wahl, in seiner Heimatstadt Wladiwostok. Ratchenko will innerhalb des Systems für Änderung werben, für mehr Mitspracherecht der Jugend, Arbeitsplatzgarantien für Studienabsolventen und bezahlbaren Wohnraum, der in den Großstädten immer knapper wird. Wenn der 26-Jährige über die russische Politik spricht, scheint es, als sei die Lösung der tiefgreifenden Probleme reine Willenssache.

Das sieht auch der Präsident Wladimir Putin ähnlich, via Videokonferenz ermunterte er die offiziell von ihm unabhängigen Parteiorganisationen im ganzen Land, Vorwahlen abzuhalten. Die Staatssender übertrugen die Direktive von ganz oben im Fernsehen, sichtbar für jedermann. Doch außer dem jungen Ratchenko interessiert sich in Russlands fernöstlicher Hafenstadt kaum jemand dafür, vor allem die Führungsriege seiner Partei nicht. Die offiziellen „Primary-Debatten“, in der die von der Basis gewählten Kandidaten ihre Argumente austauschen sollten, verkommen zu trostlosen Veranstaltungen. Bei Ratchenkos erstem Auftritt sind nur drei von den sechs Kandidaten seines Wahlkreises erschienen, ähnlich war die Beteiligung unter den wahlberechtigten Parteimitgliedern: Das Publikum bestand aus sieben Personen. Am Ende musste sich Ratchenko geschlagen geben, ein älterer Parteikollege bekam den Vorzug.

Eine Demokratie westlichen Vorbilds wünschen sich nur 16 Prozent

Einer Umfrage des Lewada-Instituts aus dem November 2015 zufolge würde eine Mehrheit die Regierungsform der Sowjetunion oder einer auf die russischen Bedürfnisse zugeschnittenen Demokratie unterstützen. Eine Demokratie westlichen Vorbilds wünschen sich nur 16 Prozent. „Die Jugend diskutiert heute wesentlich prostaatlicher“, konstatiert die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Litvinenko. Politik spiele sich auch für die junge Generation inzwischen zum Großteil wieder im regierungstreuen Fernsehen ab, wo Stabilität und Zusammengehörigkeit die Hauptrolle spielen. Eine ausgewogene Berichterstattung ist dort kaum zu finden. Oppositionelle werden mit Details aus ihrem Privatleben vorgeführt oder in Talkshows niedergebrüllt, begleitet von Schreckensmeldungen aus der Ukraine und Erfolgsnachrichten der russischen Armee in Syrien. „Die Menschen sind wieder im Überlebensmodus der 90er Jahre angekommen“, sagt Litvinenko. „Die Zeit des Schwärmens ist vorbei.“

Rene Bosch

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