Corona-Appell der Kanzlerin: Was Angela Merkel das Herz bricht
Die Kanzlerin gibt ungewohnte Ein- und Rückblicke, wehrt sich gegen Kritik. Sie fürchtet die B117-Gefahr. Und erklärt, warum es genug Kochsalzlösung braucht.
Diese Woche läuft bisher so gar nicht in ihrem Sinne. In Angela Merkels Gesicht zeichnen sich die Striemen der Maske ab. Eng anliegen müssen ja die FFP2-Masken, damit der Schutz perfekt ist. Angekommen an ihrem Platz in der Bundespressekonferenz, legt sie sie ab. Die Kanzlerin hat ein gutes Gespür, wenn es gilt, dem Entgleiten der Dinge entgegenzuwirken. Silvesteransprachen sind ja eigentlich schnell ein Fall für das Archiv, aber Angela Merkel nutzt an diesem Tag auch für persönliche Einblicke in ihre Philosophie, um ihren Kurs verständlicher machen. Dazu später.
Gleich zu Beginn benennt sie das zentrale kommunikative Problem: Sie spricht von einem „gespaltenen Bild“.
Die einerseits positive Entwicklung ist es, die diesen Kipppunkt der Pandemie so kompliziert macht, warum es schwieriger wird, den Rückhalt für die Merkelsche Denkschule hoch zu halten. Denn die Infektionszahlen gehen zurück, weniger Menschen hängen an den Beatmungsgeräten auf Intensivstationen. „Das sind gute Nachrichten.“
Aber es gibt auch fast jeden Tag über 1000 weitere Tote, 50.000 insgesamt. Das Coronavirus sei eine Zumutung für alle, zehre an den Nerven.
„Es zeigt sich aber, dass sich die Mühe lohnt.“ Das gespaltene Bild entsteht für sie durch die Bedrohung namens B117. „Die Gefahr kommt von der Virus-Mutation.“ Es sind dutzende Fälle bereits in Deutschland aufgetaucht, aber bisher ist es nicht dominant. Doch Abwarten ist keine Alternative aus ihrer Sicht. „Wir müssen diese Gefahr sehr ernst nehmen, das kann ich uns allen nur raten.“
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Doch bei der jüngsten Bund-Länder-Schalte stieß sie immer wieder an Grenzen. „Ich schätze diese Zusammenarbeit, auch wenn sie manchmal mühselig ist“, meint sie zum komplizierten Ringen mit den Ministerpräsidenten.
Impfprobleme, abgehängte Schüler durch den Unterrichtsausfall, ein immer noch fehlendes einheitliches digitalisiertes System für eine schnellere Kontaktnachverfolgung, die hohen Todeszahlen in Alten- und Pflegeheimen durch zu späte Schutzmaßnahmen – jetzt soll die Bundeswehr helfen, dass dort überall mehr Schnelltests gemacht werden.
„Mir bricht das Herz, wieviel Menschen da in Einsamkeit gestorben sind“, sagt sie – sie. Merkel will nicht sagen, was sie für die größten Fehler hält, betont lediglich: „Niemand macht jeden Tag alles hundertprozentig richtig“. Zuletzt hat es mehr geholpert als am Anfang, es ist ihr Versuch, dass alle irgendwie noch durchhalten.
Die Krisenhandwerkerin versucht zu erklären, manchmal etwas fahrig, sie zeichnet ein detailliertes Bild, wie komplex die Verästelungen dieser multiplen Krise sind. Berichtet, wie sie sich bis hin zu den Lieferketten für die Kochsalzlösung alles anschaut, damit die Impfstoffproduktion von Biontech/Pfizer funktioniert. Ohne Kochsalz kein Impfftoff. Biontech sei ja eigentlich auch nur ein Startup, es sei klug gewesen, sich den US-Konzern Pfizer als Partner dazu zu holen. 40.000 Probanden auf der Welt zu finden hätte Biontech niemals geschafft.
Pfizer baue nun die Produktion im belgischen Werk, wo der Impfstoff für Europa produziert wird um, deshalb gibt es für eine Woche erstmal eine Lieferdrosselung, Impftermine mussten abgesagt werden. Wenn aber in Kürze das frühere Novartiswerk in Marburg von Biontech/Pfizer für die Impfstoffproduktion genutzt werden kann, sei mit 75 Millionen zusätzlichen Dosen im zweiten Quartal für Europa zu rechnen. Der große Unterschied zur Spanische Grippe vor hundert Jahren sei doch: „Wir haben jetzt schon einem Impfstoff.“
Und es sei ein Novum, dass er schon in großen Mengen vor einer Zulassung produziert worden sei. Um keine falschen Versprechen mehr zu schüren, sagt sie anders als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass es für alle Bürger nicht „im Sommer“, sondern bis Ende des Sommers, also bis zum 21. September, ein Impfangebot geben werde.
Sie versucht, die Impfprobleme mit der positiven Erzählung wegzuwischen, erinnert an den Biontech-Gründer Uğur Şahin, der mit seiner Frau vor einem Jahr erkannt habe, dass da eine Pandemie auf die Welt zukomme, alles umgestellt habe auf die Impfstofferforschung und seither keinen Tag frei gehabt habe. „Das ist einen Riesenerfolg der Forschung“, sagt sie, mit ganz lang gezogenem „i“. Und die mRN-Technologie bei dem Impfstoff passe sich offensichtlich auch an das mutierte Virus an, was enorm wichtig sei. Sie ist aber vorerst gegen bereits diskutierte Sonderrechte für Geimpfte, etwa beim Reisen in Europa. "Wir wissen nicht, ob der Geimpfte trotzdem andere anstecken kann."
Das Grenzproblem
Aber Merkels Sorge ist deutlich spürbar, dass die Ausbreitung außer Kontrolle geraten könnte. Vielleicht nicht in Deutschland, zwei Mal hat sie mit dem tschechischen Premier telefoniert, besondere Sorge macht ihr die Schweiz. Wenn andere Länder alles wieder öffnen und die Inzidenzen hochschnellen, sei das auch ein Problem für Deutschland. Wenn man sich die Karten anschaut, dann sehe man, „das Infektionsgeschehen hat schon auch mit Grenzen zu tun.“
Sachsen und Bayern bestehen deshalb auf Corona-Tests bei Pendlern. Grenzschließungen sollen vermieden werden. „Der frei Warenverkehr steht überhaupt nicht zu Debatte“, betont Merkel. Es werde keine Bilder mehr von langen Staus der LKWs an der Grenze geben. Aber auf EU-Ebene wird bereits über Verbote von Urlaubsreisen diskutiert, die Niederlande haben eine Sperrstunde verhängt. "Epidemiologisch betrachtet sind wir als Europäische Union ein Gebiet", sagt Merkel, das Virus kennt halt keine Grenzen.
Die Kanzlerin sitzt hier, weil sie offensichtlich das Gefühl hat, die Lage werde von allen nicht ernst genommen. Für Freitag haben sich zur Unterstützung der Krisenkommunikations-Offensive Jens Spahn mit RKI-Chef Lothar Wieler und dem Virologen Christian Drosten in der Bundespressekonferenz angekündigt.
Merkel verteidigt ihre Wissenschaftler-Auswahl
Die jüngsten Beschlüsse für den verlängerten Lockdown bis Mitte Februar fielen auch deshalb weniger hart aus als von ihr gefordert (keine Ausgangssperren, weil viele Ministerpräsidenten aus dem gespaltenen Bild andere Schlüsse ziehen als Merkel – und sie fürchten muss, dass eine steigende Zahl der Bürger ähnlich denkt. Alle Daten zeigen, die Mobilität der Menschen ist um einiges höher als in der ersten Pandemiewelle. Und ihr wird vorgeworfen, sich zu einseitig auf die Wissenschaftler zu verlassen, die die harte Linie unterstützen. Einige von ihnen sind Verfechter der „Zero-Covid“-Strategie, also möglichst ein Runterfahren auf kaum noch Neuinfektionen.
Merkel lehnte den SPD-Wunsch ab, den Virologen Klaus Stöhr zum vorgeschalteten Expertengespräch zuzuschalten, der auch Inzidenzwerte von 130 Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern in sieben Tagen für händelbar hält, Kindergärten und Grundschulen könnten mit Hygienekonzepten öffnen. Merkel erklärt ihre Auswahl so: sie halte alle anderen Wege von einer gezielten „Durchseuchung“, also den inzwischen revidierten schwedischen Weg, für falsch. Zu viele Menschen würden zu jung sterben. „Diese politische Entscheidung habe ich getroffen.“ Aber der Kompromisssuche mit den Ländern ist das sicher auch nicht so dienlich.
Es gab in der ersten Welle die Bilder aus Bergamo mit den Militärlastwagen, die Särge abtransportieren. Das Virus war neu. Die Menschen nahmen den Lockdown durch selbst gewählte Kontaktreduzierungen vorweg, das zeigen Bewegungsprofile.
Merkel wählte sogar das für sie ungewöhnliche Format der TV-Ansprache und sagt zum Volk: „«Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Es gehöre zur Demokratie, „dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen und erläutern“, sagte sie damals. „Dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird“.
Das sind heute genau die Kritikpunkte nicht nur von einem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner - ist alles nachvollziehbar, gut begründet und was bringen die einzelnen Maßnahmen wirklich?. Wo sie in der ersten Phase viel öffentlich erklärte, machte sie das zuletzt eher durch Dinge wie ein Interview mit dem Kundenmagazin den Staatskonzerns Deutsche Bahn.
Neue Umfragen bescheinigen einen schwindenden Vertrauensverlust in das Regierungshandeln; Merkel verspricht, dass als erstes Schulen und Kitas wieder öffnen sollen, aber macht auch deutlich, dass ihr am liebsten ein Sinken der Infektionszahlen auf 25 Neuninfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen sei, im Sommer, sei man sogar runter auf eine Inzidenz von 5 gekommen.
Aber wie Schüler den Stoff aufholen sollen und ob es hier nicht ein ganz neues Nachdenken braucht, dazu sagt sie wenig. Zu frühes Öffnen birgt halt die Gefahr eines weiteren Lockdowns. Wenn, dann könne es ab Mitte Februar nur schrittweise Öffnungen geben. Entscheidend wird sein, ob die Kontakte dann wieder besser verfolgt werden. „Es gibt ungefähr 380 Gesundheitsämter, für die ich mich alle interessiere", hat sie auch hier kleinste Details im Pandemie-Räderwerk im Blick.
Sie wird an diesem Tag auch gefragt, ob sich dieses Ende ihrer Amtszeit so vorgestellt habe, wo für den Rückblick wenig Zeit bleibt. Zu erleben ist eine Kanzlerin, der alles, nur nicht Amtsmüdigkeit unterstellt werden kann. Das Faszinierende an der Politik sei ja, „dass sie oft morgens ins Büro kommen und nicht wissen, wie der Abend aussieht“. Und „dass sie ein Jahr beginnen und sich nicht vorstellen können, was in diesem Jahr passiert", sagt Merkel.
Und kramt in ihrem Kopf einen Rückblick auf die Silvesteransprachen heraus, in der jüngsten hat sie nochmal unmissverständlich klar gemacht, dass sie aufhören wird. Ob es ihre letzte war, hängt von der Schnelligkeit der Koalitionsbildung ab nach der Bundestagswahl am 26. September.
Die Silvesteransprachen - alles kam anders
In der Silvesteransprache 2015 konnte man sich nicht vorstellen, „was uns mit der Migration an Aufgaben gestellt wird“. Bei der Silvesteransprache 2007 konnte sie sich nicht vorstellen, „dass wir in eine wahnsinnige Finanzkrise hineinschlittern“, so Merkel. „Und jetzt ist eben diese Pandemie da.“
„Politik heißt, mit dem, was die Realität mit sich bringt, möglichst gut zum Wohle des deutschen Volkes – darauf haben wir unseren Eid ja geleistet, umzugehen.“ Das sei mal anstrengend, mache aber auch den Reiz aus. Sie habe auch gedacht, jetzt gehe es mit den Infektionszahlen runter. Dann kam die Nachricht aus Großbritannien, ein mutiertes Virus. „Plötzlich ist die Lage wieder eine ganz andere.“
Das Wichtige für sie sei es, sich nicht auf den einmal gefundenen Pfad zurückzuziehen, nach dem Motto, vor 14 Tagen haben wir das beschlossen, das müssen wir jetzt durchziehen, das kann durchaus als Mahnung an einige Ministerpräsidenten verstanden werden. „Sondern immer wieder klug die Lage analysieren und sich fragen, Muss ich was verändern? Das ist die Aufgabe und das macht mir Freude.“ Später sagt sie noch, jeder Tag im Kanzleramt sei vom Gefühl „angespannter Aufmerksamkeit“ geprägt. „Und das unterscheidet sich nicht vom fünften Tag meiner Amtszeit.“