Virologe fordert Umdenken der Corona-Strategie: „Wir können mit Inzidenzen von 130 bis 160 umgehen“
Der Epidemiologe Klaus Stöhr hat lange für die WHO gearbeitet. Die Kanzlerin wollte ihn trotzdem nicht in ihre Expertenrunde laden. Ein Interview.
Herr Stöhr, die SPD-geführten Länder wollten Sie bei den Vorbereitungen für den Corona-Gipfel im Kanzleramt dabei haben – die Kanzlerin offenbar nicht. Wird Ihre Meinung dort nicht geschätzt?
Dafür kann es ja verschiedene Gründe geben. Generell sind alle Kollegen von der Sorge getrieben, wie man am besten mit den gegenwärtigen schlimmen Auswirkungen der Pandemie umgehen kann.
Es ist richtig, bei so einem komplexen biologischen Geschehen intersektoral und interinstitutionell nach Lösungen zu suchen. Dazu gehören Virologen und Epidemiologen, Populationsbiologen, aber auch Soziologen, Psychologen und Kommunikationswissenschaftler und natürlich Gesundheitsökonomen. Aus meiner Perspektive gehören die aktuell in die Beratungen.
Im Gegensatz zur Meinung vieler Berater der Kanzlerin sehen Sie eine Verschärfung des Lockdowns kritisch. Was schlagen Sie vor?
Generell stimmt das so nicht: Risikopersonen müssen besser geschützt werden, Kindergärten und Grundschulen können mit Hygienekonzepten öffnen. Insgesamt hat sich das Geschehen auf einem recht hohen Niveau eingepegelt. Die Inzidenzen nehmen sogar leicht ab. Allerdings nicht die Todeszahlen, vor allem aus den Alten- und Pflegeheimen. Das ist besorgniserregend.
Wenn man sich die Zahlen und Fakten anschaut, benötigt es eine Differenzierung der Maßnahmen: besseren Schutz für die Risikopersonen, hier geht es nicht um Lockerung, sondern um bessere Umsetzung der Hygienekonzepte. Wie man allerdings die hohen Fall- und Todeszahlen bei den Alten durch weitere Schließung der Schulen und Kindergärten umdrehen will, verstehe ich nicht. Auch nicht das Risiko, dass die Kinder nach der Schule die Großeltern anstecken würden. Wer als Eltern seine Kinder noch bedenkenlos zu den Großeltern lässt, war wohl die letzten zehn Monate abwesend.
Es gibt in Deutschland aber auch 27 Millionen Risikopersonen.
Hier müssen neben den AHA-Regeln und der Kontakteinschränkung durch Geschäftsschließungen, Homeoffice und Besuchseinschränkungen zusätzlich bessere Konzepte gefunden werden, die Eigenverantwortung zu stärken.
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Die großen Inzidenzunterschiede zwischen Bundesländern können nicht durch das Klima oder die Populationsdichte erklärt werden. Einschränkende Maßnahmen können Verhalten ändern, die Einstellung aber nicht; dafür muss man auch den Kopf überzeugen.
Was meinen Sie mit "Eigenverantwortung stärken"?
Regeln allein reichen eben nicht, wir müssen die Menschen im Kopf mitnehmen. Deswegen wäre es so wichtig, wenn mehr Soziologen, Psychologen und Kommunikationswissenschaftler einbezogen werden. Die können sicherlich helfen, die Menschen zu motivieren, die Eigenverantwortung da zu übernehmen, wo der Staat nicht kontrollieren kann.
Und wie soll man mit den großen Unterschieden zwischen den Bundesländern und Kreisen umgehen?
Differenziert. Die Stringenz der Maßnahmen muss sich der Situation anpassen und elastisch regional/lokal gelockert oder verschärft werden. Ein Lockdown mit der Gießkanne bringt da nichts. Wir brauchen lokale Maßnahmen, nicht nationale.
Die Kanzlerin und die Länderchefs haben beschlossen, dass die Schulen geschlossen bleiben. Außerdem kommt die FFP2-Maskenpflicht im ÖPNV und mehr Homeoffice. Was halten Sie davon?
FFP2-Masken können einen Unterschied machen: bei ausgewählten Risikosituationen und -gruppen wie Alten- und Pflegeheime oder Besuchszimmer in Krankenpraxen Im Unterschied zu Schals und selbstgenähten Masken, die verschwinden sollten. Ausgangssperren kommen bei mir bei der Eskalierung der Maßnahmen noch vor dem Schließen von Kitas und Schulen. Sie sind ein mögliches, vorletztes Mittel, um als Ultima Ratio in Krisensituationen Erkrankungshäufigkeiten zu reduzieren.
Aber im Moment sind wir zum Glück nicht am Limit. Die Intensivstationen sind nur punktuell überlaufen, das Gesundheitswesen kommt in der Breite nicht an seine Grenzen. Wir können mit den aktuellen Inzidenzen umgehen.
Wenn Sie sagen, dass wir mit den aktuellen Inzidenzen umgehen können, müssen wir dann auch mit 1000 Toten pro Tag umgehen?
Nein, wir müssen mehr tun bei den Risikopatienten und vor allem bei den Alten- und Pflegeheimen. Aus diesen Einrichtungen kommen mehr als 30 Prozent der Corona-Toten. Über bessere Eigenverantwortung müssen wir auch die anderen 27 Millionen Risikopersonen erreichen. Bei der Reduktion der Todesfälle müssen wir besser werden.
Bundesweit haben wir momentan eine Inzidenz von 130. Mit wie vielen Fällen können wir umgehen?
Wir können, das haben die letzten Monate gezeigt, einen guten Mittelweg bei Inzidenzen von 130 bis 160, vielleicht sogar 180, ermöglichen. Einen Weg, bei dem wir die gesundheitlichen Schäden so weit wie möglich begrenzen, die freiheitlich-demokratischen Rechte nicht zu stark strapazieren, den Menschen gewisse Spielräume geben und ermöglichen, dass die Wirtschaft noch einigermaßen läuft.
Das könnte ein ambitioniertes, realistisches und durchhaltbares Ziel für die Eindämmung der Pandemie sein. Dazu gehört aber natürlich der besondere Schutz der Risikogruppen. Bis zum Ende des Winters dauert die Hochzeit von SARS-CoV-2. Bis dahin müssen die Kontakte reduziert werden; in eine Situation wie in England oder Irland vor Weihnachten wollen wir nicht schlittern. Auf der anderen Seite ist es auch nicht realistisch, eine Inzidenz gegen oder sogar unter 50 zu erreichen.
Das erklärte Ziel der Bundesregierung…
Ich unterstütze den Wunsch, eine so niedrige Inzidenz wie möglich zu erreichen. Wir müssen aber realistische Ziele setzen und die Menschen mitnehmen. Wir haben es in Deutschland im Oktober erlebt, dass die Werte stiegen, und unsere Gesundheitsämter konnten es nicht verhindern. Dauerhafte Inzidenzen von unter 50 sind realitätsfern.
Das sage ich aus meiner Erfahrung mit respiratorischen Infektionskrankheiten in den letzten Jahrzehnten, vor allem aber wegen der Erfahrungen unserer Nachbarländer. Österreich, Frankreich, Belgien, die Niederlanden und allen anderen Staaten, außer Irland, haben es nicht geschafft. Selbst wenn ich mich täusche, wüsste ich nicht, wie wir die Inzidenz dann halten können. Das sieht man in Irland, wo sie die Inzidenz drücken konnten. Dann hat man gelockert und die Pubs geöffnet, und jetzt haben sie eine Inzidenz von 700.
Dort grassiert aber auch die britische Corona-Mutation B117.
Die irischen Kollegen schlussfolgern, dass die Variante nicht der Grund für den explosionsartigen Anstieg ist; das waren die Verhaltensänderungen der Menschen nach dem drastischen Lockdown. Tatsächlich ist die Variante dann kurz vor Erreichen des Ausbruchpeaks erschienen. Die wichtigste Beobachtung ist, dass die Variante aber die Bekämpfung nicht erheblich zu erschweren scheint.
In Irland nehmen die Fälle jetzt rapide ab, obwohl der prozentuale Anteil der Variante an den Isolaten zunimmt. Das spricht eigentlich gegen eine für die Bekämpfung relevante höhere Infektiosität. Auch in England nimmt die Inzidenz jetzt stark ab. Allerdings bleibt es wichtig, das Geschehen virologisch gut zu überwachen, auch in Deutschland.
Viele Ihrer Kollegen halten die Mutation für deutlich gefährlicher.
Die Zahlen in Irland zeigen es doch. 70 Prozent der Fälle gehen inzwischen auf das Konto der Mutation - und trotzdem sinken die Zahlen. Für die Seuchenbekämpfung ist die Mutation also offensichtlich nicht so besorgniserregend.
Wann können wir in Deutschland wieder Kneipen, Geschäfte und Konzerthallen öffnen?
Im Winter muss man immer gegen den hohen Infektionsdruck halten – im Sommer ist das etwas ganz anderes. Wenn wir weiter Abstand halten, Masken aufsetzen und Hygieneregeln befolgen, könnten wir bei einem Inzidenzkorridor von 130-160 und besserem Schutz der Risikogruppen die Kitas flächendeckend öffnen, je nach regionaler Lage auch die Grundschulen.
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Über die Öffnung von Geschäften unter Beibehaltung der Hygienekonzepte muss man ebenfalls lokal entscheiden; entsprechend der regionalen Inzidenzsituation und der Projektion des Geschehens in den Krankenhäusern. Restaurants würde ich wegen der Erfahrungen in anderen Ländern geschlossen halten und Großveranstaltungen sind mindestens bis Anfang Sommer tabu.
Es gibt Kritiker, die Ihnen vorwerfen, dass Sie als früherer Mitarbeiter des Impfstoff-Herstellers Novartis ein Interesse daran haben könnten, wenn es weiterhin viele Infektionen gibt.
Das ist absurd. Da fehlen mir die Worte. Ich habe gern bei Novartis gearbeitet und viel gelernt; Aktien habe ich nicht mehr. Das Unternehmen habe ich vor drei Jahren verlassen. Ich berate auch keine Firma, die etwas mit Medikamenten oder Impfstoffen zu tun hat.
Ich sehe meinen Lebenslauf positiv: Ich habe fünf Jahre studiert, zwei Jahre an meiner Promotion gearbeitet, vier Jahre in nationalen Forschungseinrichtungen, 15 Jahre bei der WHO und elf Jahre in der Industrie gearbeitet. Überall habe ich etwas für meine Entwicklung mitgenommen– aber sicherlich keine Voreingenommenheit gegenüber wissenschaftlichen Daten.
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