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Fahndungsfotos von Anis Amri kurz nach dem Anschlag.
© dpa

Anschlag am Breitscheidplatz: Warum wurde Anis Amris Freund so schnell abgeschoben?

Er aß mit ihm vor dem Anschlag, hatte Fotos vom Breitscheidplatz auf dem Handy: Bilel Ben A. stand im Verdacht, Amris Komplize gewesen zu sein. Kurz nach dem Attentat musste er das Land verlassen.

Die Vernehmung des Verdächtigen beginnt um kurz nach Mitternacht. „Wann haben Sie Anis Amri zuletzt gesehen?“ – „Über was haben Sie sich unterhalten?“ – „Wie lange haben Sie sich mit ihm getroffen?" Der verheerende Anschlag vom Breitscheidplatz war zu diesem Zeitpunkt, Anfang Januar 2017, gerade zwei Wochen her. Vor den Ermittlern sitzt Bilel Ben A. Der 26-Jährige ist ein Freund des Attentäters Anis Amri. Er beteuert: „Ich kannte Anis Amri, aber ich habe nichts mit dem Anschlag zu tun.“ Und: „Ich war schockiert, dass Anis Amri so etwas gemacht hat.“ A. verstrickt sich aber in Widersprüche, behauptet sogar, eigentlich anders zu heißen. Als die Ermittler ihn in einer späteren Vernehmung mit seinen Lügen konfrontieren, wird er aufbrausend.

Anfang Februar 2017 und damit nur anderthalb Monate nach dem Anschlag, wird Bilel Ben A. dann als Gefährder nach Tunesien abgeschoben. Obwohl offiziell noch wegen möglicher Beteiligung an dem Anschlag gegen ihn ermittelt wird. Obwohl er einer der wichtigsten Kontaktpersonen Amris ist, am Abend vor dem Attentat sogar noch mit ihm zusammensaß. Und obwohl die Ermittlerangesichts seines „schauspielerischen Talents“ notieren, über den Wahrheitsgehalt seiner Antworten könne keine abschließende Aussage getroffen werden.

Viele Verdachtsmomente

Mehrere Dokumente und auch die Vernehmungsprotokolle, die dem Tagesspiegel vorliegen, zeigen, wie viele Verdachtsmomente es gegen Bilel Ben A. gab. In der Zusammenschau machen sie seine Abschiebung noch bemerkenswerter. Der Vorgang ist eines der größten Rätsel im Fall Anis Amri, das auch den Untersuchungsausschuss im Bundestag stark beschäftigt.

Die Linken-Abgeordnete Martina Renner etwa bezeichnet es als „einmalig und nicht nachvollziehbar“ dass jemand als Verdächtiger während laufender Terrorermittlungen abgeschoben werde. Auch der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz nennt die „überhastete“ Abschiebung einen „sehr irritierenden Vorgang“. Und der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser sagt: „Diese Entscheidung scheint ein krasses Versäumnis deutscher Behörden zu sein.“

Bilel Ben A. war den Behörden nicht erst seit dem Anschlag ein Begriff. Er tauchte schon vorher im Zusammenhang mit verschiedenen Verfahren auf – unter anderem in einem sogenannten Gefahrenabwehrvorgang namens „Lacrima“. Dabei beobachtete das Bundeskriminalamt eine Gruppe von IS-Sympathisanten, zu denen A. Kontakt hatte.

Fotos vom Tatort

A. selbst war offenbar ebenfalls IS-Anhänger. Das lässt sich aus einem Facebook-Eintrag schließen, in dem er 2015 einen Treueeid auf den Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi veröffentlichte. Die Beamten fanden auf seinem Mobiltelefon außerdem Hinweise darauf, dass er mit dem Gedanken spielte, ins Kampfgebiet nach Syrien auszureisen. Und A. war sehr mobil. 2016 reiste mindestens zwei Mal, möglicherweise sogar drei Mal nach Paris beziehungsweise Frankreich.

Eines der wichtigsten Indizien gegen A. ist, dass auf seinem Mobiltelefon Bilder vom Breitscheidplatz gefunden wurden, die vor dem Anschlag entstanden sind. Im Februar 2016 fotografierte er nicht vorrangig die Gebäude um den Platz herum oder die Gedächtniskirche, sondern Straßen und Begrenzungspoller. Von Notz sagt sogar, A. habe Fotos gemacht „exakt von der Schwachstelle der Absicherung des Marktes, an der Amri später mit dem LKW in den Weihnachtsmarkt gefahren ist“. Das Foto sei ein sehr konkreter Hinweis „auf eine gemeinsame Planung beziehungsweise eine Tatbeteiligung“ von A.

Am Tatort Breitscheidplatz hat Anis Amris Freund Bilel Ben A. schon in der Zeit vor dem Anschlag Fotos gemacht.
Am Tatort Breitscheidplatz hat Anis Amris Freund Bilel Ben A. schon in der Zeit vor dem Anschlag Fotos gemacht.
© Michael Kappeler, dpa

Am Vorabend des Attentats dann saß A. mit Anis Amri in einem Hähnchenrestaurant in Gesundbrunnen. Auch am Nachmittag des Tattages hatte Amri laut der Daten seines Mobiltelefons mit einem „Bilal“ Kontakt. A. selbst behauptet, er sei am Tattag krank gewesen, die Ermittler konfrontierten ihn in der Vernehmung aber damit, dass er tagsüber „in Spandau und bei Aldi“ gewesen sei.

Zeuge mit tragischem Schicksal

Bemerkenswert sind außerdem die Fotos, die Journalisten am Abend des Anschlags am Breitscheidplatz gemacht haben. Darauf ist in all dem Chaos ein Mann mit blauen Handschuhen zu sehen, der A. ähnlich sieht. In der Vernehmung bestreitet A., dass er das gewesen sei.

Die Bundesanwaltschaft ging Anfang 2017 noch einem weiteren Verdacht nach, er hängt mit dem tragischen Fall des Sascha Hüsges zusammen. Dieser war zur Tatzeit am Breitscheidplatz. Hüsges blieb zwar vom Lkw verschont, rannte aber zum Tatort, um zu helfen. Wenige Minuten später kam er benommen zurück, etwas hatte ihn am Kopf getroffen. Kurz darauf brach er zusammen. Hüsges ist heute gelähmt, kann nicht sprechen, nur mit den Augen blinzeln. Der Verdacht der Bundesanwaltschaft: Amri selbst oder jemand, der ihm half, habe Hüsges mit einem stumpfen Gegenstand verletzt, um Amri die Flucht zu ermöglichen. Die Bundesanwaltschaft beantragte einen DNA-Vergleich zwischen Hüsges und den Spuren an Amris Waffe, der aber nichts ergab.

Im Oktober 2017 stellte die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen A. ein – mehr als siebeneinhalb Monate nachdem der Tunesier in sein Heimatland abgeschoben wurde. Aus Sicht der Behörde war schon im Januar 2017 klar, dass A. nicht nachzuweisen war, ein Komplize von Anis Amri gewesen zu sein. Der Beschuldigte habe zwar eingeräumt, Amri zu kennen, heißt es in einem Vermerk vom 19. Oktober 2017. Doch A. bestreite eine Tatbeteiligung. Das konnten Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt nicht widerlegen. Es seien keine ausreichenden Beweismittel dafür gefunden worden, „dass der Beschuldigte an der Tat des Anis Amri beteiligt war“.

In Tunesien verschwunden

Die Bundesanwaltschaft widerspricht der These, A. sei zu früh abgeschoben und die Ermittlungen gegen ihn damit behindert worden. Das Verfahren gegen den Tunesier sei erst Monate nach der Abschiebung eingestellt worden, weil der zuständige Dezernent auch mit anderen Verfahren befasst war, in denen aktuell gehandelt werden musste. Die Einstellung des Verfahrens gegen A. sei nicht vordringlich gewesen.

Die Linken-Abgeordnete Renner sagt, man hätte prüfen müssen, „wie man A. in Deutschland in Haft behalten kann, anstatt ihn nach Tunesien abzuschieben“. Es sei klar gewesen, dass man ihn von dort weder als Beschuldigten noch als Zeugen je nach Deutschland würde zurückholen können. Auch für den Untersuchungsausschuss wird er nun wohl nicht zur Verfügung stehen. Auf eine Frage der Linken nach dem Aufenthaltsort von A. hieß es Anfang des Jahres: „Zum konkreten aktuellen Aufenthaltsort des A. in Tunesien liegen der Bundesregierung keine gesicherten Erkenntnisse vor.“ Er ist abgetaucht.

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