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Eine Schneise der Verwüstung war auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zu sehen, nachdem der Attentäter Anis Amri mit einem Lastwagen über den Platz gerast war.
© dpa

Attentat vom Berliner Breitscheidplatz: Der Fall Amri gibt immer neue Rätsel auf

Der Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, wurde unweit des Ortes erschossen, an dem Tage zuvor der Tat-Lkw beladen wurde. Wie ist das zu erklären? Das ist nur eine von vielen offenen Fragen.

Es ist mindestens ein bemerkenswerter Zufall, der die Bundestagsabgeordneten im Untersuchungsausschuss zum Fall Anis Amri derzeit beschäftigt. Er betrifft den Ort in Norditalien, an dem der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz von italienischen Polizisten erschossen wurde. Dieser ist nur etwa 20 Gehminuten entfernt von dem Ort, an dem Tage zuvor der polnische Lkw-Fahrer sein Fahrzeug beladen hatte. Amri hatte ihn in Berlin erschossen und mit dem Lkw den Anschlag begangen.

Bislang gibt es keine Erklärung für die räumliche Nähe. „Wenn man sich das auf der Europakarte anschaut, ist es zumindest ein unglaublicher Zufall“, sagt Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz, der Mitglied im Untersuchungsausschuss ist. „Solche Zufälle gibt es. Aber ich erwarte, dass in den Ermittlungen zur Aufklärung jeder Stein umgedreht wurde, um zu prüfen, ob es da einen Zusammenhang gibt.“

Die Linken-Abgeordnete Martina Renner will wissen: „Hatte Amri in diesem kleinen italienischen Ort Kontakte, sodass er ausgerechnet dahin floh? Hat er sich dort Hilfe versprochen?“ Sie will klären, ob Amri den Ort möglicherweise im Zusammenhang mit „kriminellen Aktivitäten im Bereich des Drogenhandels“ kannte. Amri hatte, bevor er 2015 nach Deutschland kam, mehrere Jahre in Italien gelebt.

„Wir müssen der Spur nachgehen“

Der kleine italienische Ort Sesto San Giovanni, wo Amri erschossen wurde, liegt unweit von Mailand, in der Lombardei, und inmitten eines Industriegebiets. Die Gegend ist dafür bekannt, dass dort Dschihadisten ihren Stützpunkt haben. Viele Muslime leben hier, es gibt mehrere hundert Moscheen. Es ist nicht auszuschließen, dass Amri hier Kontakte hatte. Belege dafür sind dem FDP-Abgeordneten Benjamin Strasser, der ebenfalls Mitglied des Untersuchungsausschusses ist, aber noch nicht untergekommen. „Möglicherweise wollte Amri aus dem kleinen italienischen Ort mit dem Bus weiterreisen nach Tunesien. Wir wissen ja, dass er zurück in die Heimat wollte, sich selbstständig machen. Aber wir müssen der Spur nachgehen.“

Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass der polnische Lkw-Fahrer den Attentäter Amri kannte. Der Lkw-Fahrer hatte eine Stahlkonstruktion in Cinisello Balsamo aufgeladen, einem direkt angrenzenden Nachbarort von Sesto San Giovanni an der Autobahn. Die Stahlkonstruktion wollte er später nach Berlin bringen. In Berlin parkte er am Friedrich-Krause-Ufer in Tiergarten, wo viele Trucker ihre vorgeschriebenen Ruhepausen absolvieren. Hier fiel er am 19. Dezember 2016 Amri zum Opfer. Dokumente mit den Standortdaten des Lkw belegen diese Route.

Hatten die italienischen Nachrichtendienste Amri im Visier?

Der Untersuchungsausschuss will nun auch die italienischen Behörden um Mithilfe bitten, um die offenen Fragen zu klären, die im Zusammenhang mit Amris Leben in Italien sowie dem Geschehen nach der Tat stehen. „Uns interessieren Akten, wir wollen möglicherweise aber auch italienische Zeugen vernehmen“, sagt der Ausschussvorsitzende Schuster. Eine solche Zusammenarbeit könne „ein Präzedenzfall für die Zukunft werden.“

FDP-Mann Strasser würde von den Italienern gerne wissen: „Waren die italienischen Nachrichtendienste an Amri dran?“ Wenn ja, sagt er, hätten sie die deutschen Kollegen bei Amris Ausreise nach Deutschland warnen müssen. „Und das wiederum würde die Frage aufwerfen, wie es sein kann, dass sich Amri mit 14 Identitäten in Deutschland aufhalten konnte - wenn klar war, mit wem man es zu tun hat.“

In der Sitzung des Untersuchungsausschusses am Donnerstag ist als Zeuge erst einmal der Berliner Sonderermittler im Fall Amri, Bruno Jost, geladen. Auch ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) soll aussagen. Ihn wollen die Abgeordneten fragen, welche Erkenntnisse das BKA darüber hat, was Amri in Italien wollte. „Auch das BKA muss es im Rahmen seiner Ermittlungen bewegt haben, wie es sein kann, dass Amri so nah am Beladeort des Lkw erschossen wurde“, sagt Renner. Zudem wird am Donnerstag in nicht öffentlicher Befragung ein Mitbewohner Amris vernommen. Dieser soll den Abgeordneten etwas über die persönliche Entwicklung des späteren Attentäters erzählen.

Möglicher V-Mann des Verfassungsschutzes im Umfeld von Amri

Die geplante Befragung eines Beamten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) soll aus Zeitgründen verschoben werden. An ihn haben die Abgeordneten viele Fragen. Offen ist nämlich, ob der Verfassungsschutz einen eigenen V-Mann im Umfeld Anis Amris eingesetzt hatte. Auf eine Anfrage der Grünen Anfang 2017 hatte die Bundesregierung das noch verneint. Im Mai berichtete jedoch die „Welt“, dass der Verfassungsschutz in der Berliner Fussilet-Moschee, wo Amri regelmäßig verkehrte, mindestens eine Quelle hatte. Der FDP-Abgeordnete Strasser wollte darauf hin noch einmal von der Regierung wissen, ob der Verfassungsschutz einen V-Mann im Umfeld der Moschee mit Kontakt zu Amri platziert hatte. Das Bundesinnenministerium verwies auf die frühere Antwort an die Grünen und fügte hinzu: „Eine weitergehende Beantwortung der Anfrage kann nach sorgfältiger Abwägung nicht erfolgen“ - da sie das „Staatswohl“ gefährden würde.

Brisant ist die Frage nach dem V-Mann vor allem deshalb, weil das Bundesamt für Verfassungsschutz eine mögliche Verantwortung im Fall Amri stets von sich gewiesen hatte. Das sei Sache der Polizei gewesen. Bei einer öffentlichen Anhörung im Oktober, sagte Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, man könne im Fall Amri zwar von Versagen sprechen. „Aber das“, sagte er, „betrifft nicht meine Behörde!“ FDP-Mann Strasser sagt: „Für uns stellt sich im Zusammenhang mit einem möglichen V-Mann die Frage, ob das BfV nicht doch mehr mit Amri befasst war und mehr Verantwortung trägt, als Maaßen zugibt.“

Maria Fiedler

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