Attentäter vom Breitscheidplatz: Was hatte Anis Amri mit „Deso Dogg“ zu tun?
Dem BKA begegnete der spätere Attentäter Anis Amri schon früh - in Verbindung mit einem anderen Islamisten. Der Untersuchungsausschusses des Bundestages nimmt viele Fragen mit in die Sommerpause.
Es ist schon spät am Abend, als die Bundestagsabgeordneten im Amri-Untersuchungsausschuss in der vergangenen Sitzung aufhorchen. Eine Zeugin des Bundeskriminalamts wird befragt, sie war früher Verbindungsbeamtin in Rom. Bei ihrer Arbeit sei ihr die Personalie Anis Amri in der Zeit vor dem Anschlag begegnet, sagt sie. Allerdings nicht weil Amri selbst für wichtig erachtet worden sei, sondern weil er in einem „anderen Kontext“ aufgetaucht sei, „als die Kontaktperson einer interessanten Person“. Die Bundestagsabgeordneten fragen nach. Als Kontaktperson vom wem? In welchem Kontext? Die Zeugin ist unsicher, ob sie das sagen darf, muss sich erst mit Vertretern der Bundesregierung beraten. Dann erklärt sie: Es sei befürchtet worden, dass eine Gruppe in Deutschland einen Anschlag vorbereitet. Es habe sich um einen Vorgang zur Gefahrenabwehr gehandelt. „Der Name der Operation ist Lacrima“, sagt die Zeugin.
Auch wenn jetzt die parlamentarische Sommerpause beginnt, werden die Bundestagsabgeordneten viele Fragen mitnehmen. „Lacrima“ heißt zu Deutsch: Träne. In Mittelpunkt der Operation stand zunächst der Berliner Gangsterrapper Denis Cuspert alias „Deso Dogg“. Cuspert gilt als einer der bekanntesten deutschen Dschihadisten. 2014 schloss er sich dem IS an, Anfang des Jahres soll er in Syrien umgekommen sein. Was hatte der Attentäter Anis Amri mit „Deso Dogg“ zu tun?
„BKA wusste, in welchen Kontexten Amri sich bewegte“
Für den FDP-Obmann Benjamin Strasser wird durch die Erkenntnisse zur „Operation Lacrima“ klar: „Anis Amri war kein kleiner Fisch, sondern hat sich in einem Gefüge der gefährlichsten deutschen Islamisten, Abu Walaa und Denis Cuspert, bewegt, gegen die allesamt Maßnahmen deutscher Sicherheitsbehörden liefen.“ Auch die Grünen-Obfrau im Untersuchungsausschuss, Irene Mihalic, sagte dem Tagesspiegel: „Es wird deutlich, dass Bundessicherheitsbehörden, hier das BKA, sehr wohl und sehr früh wussten, in welchen Kontexten Anis Amri sich bewegte.“
In direktem Kontakt standen Anis Amri und Denis Cuspert zwar womöglich nicht. Wie die „Welt“ berichtet, war aber ein Freund von Amri gut mit einem radikalisierten Islamisten namens Sabou S. bekannt, der wiederum mit Cuspert in Kontakt stand.
Besonders die Opposition beschäftigt nun außerdem weiterhin die Frage, warum Amri im Juli 2016 mit einem „Flixbus“ in die Schweiz ausreisen wollte, aber von der Polizei daran gehindert wurde. Das BKA selbst hatte schon ein Jahr vor dem Anschlag, im Dezember 2015, in Italien nach Amri gefragt - offenbar weil er in der Operation „Lacrima“ aufgetaucht war. Die Italiener teilten im April 2016 mit, Amri habe in den vier Jahren, die er in Palermo im Gefängnis abgesessen hatte, Revolten und Proteste organisiert und aggressives Verhalten gegenüber Häftlingen christlicher Religion an den Tag gelegt. Er sei zur Fahndung ausgeschrieben, weil er eigentlich nach seiner Haft abgeschoben werden sollte. Nach seiner Haft sei er außerdem wegen vorsätzlicher Körperverletzung angezeigt worden.
Hat sich Amri vor Strafverfolgung geschützt gefühlt?
Warum also sollte Amri nicht ausreisen? „Genau das werden wir untersuchen, denn eine schlüssige Erklärung habe ich dafür nicht“, sagt Mihalic. „Im Raum steht, dass Amri nicht gehen sollte, weil er eine wichtige Rolle in bestimmten Observationsprojekten der Polizei oder auch der Nachrichtendienste spielte.“ FDP-Mann Strasser wird noch deutlicher: „Wenn sich Anis Amri wirklich im Umfeld Abu Walaas und des Cuspert-Netzwerks bewegt hat, war er mindestens ein wichtiger Nachrichtenmittler der islamistischen Szene in Deutschland.“ Es sei durchaus möglich, dass deutsche Sicherheitsbehörden Amri aus diesem Grund bewusst im Land halten wollten, um ihn weiter überwachen zu können.
Für die Grünen-Obfrau Mihalic ist außerdem bemerkenswert, dass Amri nach seinem gestoppten Ausreiseversuch geradezu erleichtert gewesen sei. „Er schien sich nun geschützt vor Strafverfolgung zu fühlen. Wodurch diese Erleichterung ausgelöst wurde, werden wir in unserer Untersuchungsarbeit zu klären haben.“ Sie kritisiert, dass das BKA hätte versuchen müssen, an der Überstellung Amris nach Italien mitzuwirken.
In der CDU hat man andere Ansichten. „Die These, dass man Amri nicht festnahm, weil er als ,Nachrichtenmittler' gebraucht wurde, ist nicht belegt. Es entspricht im Übrigen nicht der gängigen Praxis der Sicherheitsbehörden“, sagt der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor. Ihm gehe es im Fall Anis Amri nicht darum, mit dem Finger auf einzelne Sicherheitsbehörden zu zeigen, „sondern darum, herauszufinden, wie die Sicherheit in Deutschland verbessert werden kann.“
Amri hatte „Liaison“ in Italien
Bemerkenswert ist dennoch, dass später auch aus Marokko Warnhinweise kamen. So wird in einem Schreiben aus Rabat vom 19. September 2016 Amri als „Islamonaute“ bezeichnet, also als Cyberislamist, bezeichnet, der Anhänger des IS sei und ein „Projekt ausführe“. Sein Gastland bezeichne er als Land des Unglaubens. Wenig später warnt der marokkanische Geheimdienst, Amri sei in Kontakt mit Bewerbern für den Dschihad. Trotzdem kamen die deutschen Sicherheitsbehörden im November 2016 zu dem Schluss, ein konkreter Gefährdungssachverhalt sei nicht erkennbar - die Aktualität der Informationen aus Marokko solle überprüft, die Abschiebung vorbereitet werden. Anderthalb Monate später beging Amri den Anschlag.
Bei einer anderen Frage ist der Untersuchungsausschuss nun etwas weiter: Bislang war unklar, was genau Amri in Italien wollte - wo er ja schließlich wenige Tage nach dem Anschlag erschossen wurde. Die Verbindungsbeamtin des BKA berichtete von einer „Liaison“ mit einer Frau in Sizilien, die Amri gehabt habe. Möglicherweise wollte er zu ihr.