Skepsis in der Corona-Wissenschaft: Warum wir mehr Zweifel zulassen müssen
Bei dünner Faktenlage über Covid-19 darauf zu beharren, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, ist anmaßend. Mehr Demut im Urteil tut gut. Ein Kommentar.
Ein Gedankenexperiment: Wenn wir sicher wüssten, dass ab dem 1. September ein zuverlässiger Impfstoff gegen Covid-19 verfügbar ist, würde wahrscheinlich jeder das Abstandsgebot einhalten, soziale und physische Distanz wahren. Das Ende der Qualen wäre nahe. Da wäre es unsinnig, noch irgendein Risiko einzugehen.
Wenn wir aber sicher wüssten, dass weder in diesem noch im nächsten Jahr ein Impfstoff entwickelt werden könnte, wir also auf unabsehbar lange Zeit mit drastischen Einschränkungen unserer Freiheitsrechte leben müssten, mit womöglich zweiten, dritten und vierten Infektionswellen, sähe die Sache anders aus: Dann nähme die Neigung zu, die Restriktionen zu lockern, selbst wenn dadurch das Ansteckungsrisiko steigt. Ein permanentes Leben im Lockdown mag sich keiner vorstellen.
Das Gedankenexperiment zeigt, dass unsere ethischen Maßstäbe nicht ewig und unveränderlich gleich bleiben, sondern an psychologische Faktoren geknüpft und daher wandelbar sind. Ängste, Erwartungen, Hoffnungen bestimmen ebenso das Ergebnis eines abwägenden Kalküls wie persönlichkeitskonstituierende Elemente, namentlich Geduldsfähigkeit und Frustrationstoleranz.
Mutiert Covid-19?
Das Gedankenexperiment ist auch aus einem zweiten Grund tückisch: Es beschreibt exakt das Dilemma, in dem wir uns befinden. Denn niemand weiß, ob wir näher an Modell a oder Modell b sind. Es gibt diverse Wahrscheinlichkeitsrechnungen und diverse Variablen, die eine Vorhersage erschweren.
In seiner 1944 erschienenen Schrift „Das Elend des Historizismus“ wandte sich Karl Popper entschieden gegen „orakelnde Philosophien“. Der Verlauf der Geschichte werde durch Unwägbarkeiten charakterisiert. Ein Ereignis für den Zeitpunkt y indes kann stets nur aufgrund der zum Zeitpunkt x verfügbaren Daten prognostiziert werden. Was zwischen x und y geschieht und das Ereignis womöglich gravierend beeinflusst, weiß keiner. Mutiert Covid-19? Wird es schwächer oder gar stärker? Diesbezüglich tappen alle im Dunkeln.
Wissenschaft ohne Skepsis führt zum Dogma. Dann aber ist sie keine Wissenschaft mehr. Es muss Raum geben für Zweifel, damit wissenschaftlicher Fortschritt möglich wird. Ein Wissenschaftler, der behauptet, zu hundert Prozent im Recht zu sein, ist ein Schurke oder ein Scharlatan.
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Wilde Spekulationen und steile Thesen
Im Oktober 1958 hielt Popper, damals als Präsident der „Aristotelian Society“, in London eine Rede mit dem Titel „Back to the Pre-Socratics“ (Zurück zu den Vorsokratikern). Auch falsche Theorien seien notwendig, sagte er, weil sie zum Denken und Argumentieren herausfordern und eine kritische Diskussion überhaupt erst möglich machen. Die Vorsokratiker hätten mit wilden Spekulationen und steilen Thesen eine Methode der Rationalität begründet.
Das soll weder Verschwörungstheoretiker noch Aluhutträger, weder rechte noch linke Spinner rehabilitieren, die sich auf „Hygienedemonstrationen“ versammeln. Der rebellischen Attitüde des Zweifels – jener anti-elitären, anti-autoritären und anti-wissenschaftlichen Pose – sollte niemand verfallen.
Die Zurückweisung von „Covidioten“ darf jedoch nicht zu einer Diskreditierung des skeptischen Denkens an sich führen. Es gibt Fragen, die es verdienen, ernsthaft erörtert zu werden. Mitte März meinte Angela Merkel noch, 60 bis 70 Prozent der Deutschen würden sich mit dem Virus infizieren. Die WHO ging damals von einer Sterblichkeitsrate zwischen drei und fünf Prozent aus. Dass es anders kam, könnte den Maßnahmen der Politik zu verdanken sein, es könnte aber auch andere Gründe haben.
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Beide Seiten wollen Leben schützen
Weil keiner weiß, ob das Virus mutiert, wie es sich weiter verhält und wann es einen Impfstoff gibt, muss die politische Diskussion über die Alternative Restriktion versus Lockerung ohne bösartige Unterstellungen geführt werden. Beide Seiten wollen Leben schützen, keiner der Beteiligten verhält sich ignorant gegenüber gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Bekämpfung.
Beide Seiten wägen ab, kommen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Bemerkenswerterweise tendieren Konservative zu einer etwas fatalistischen Sicht – da wir ohnehin alle sterben müssen, sollten wir die Folgeschäden begrenzen -, während Linke mit absoluten Standards argumentieren – Freiheitsbeschränkungen so lange wie nötig, um Leben zu retten.
Bei dünner Faktenlage darauf zu beharren, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, ist anmaßend und ungerecht. Mehr Demut im Urteil über die Urteile anderer tut allen gut.