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Demonstranten der Initiative „1bis19“ in Berlin fordern klare und sinnvolle Maßnahmen im Vorgehen gegen die Pandemie. 
© Christophe Gateau/dpa

Corona und das Grundgesetz: Freie Gesellschaften werden ihrer Selbstbestimmung beraubt

Maß halten und wachsam sein: Wer die Erosion der Freiheitsrechte stoppen will, darf keinen Stimmungen folgen. Ein Gastbeitrag. 

Die bisher in unserer Demokratiegeschichte einschneidensten kollektiven Grundrechtseingriffe erfordern höchste Wachsamkeit. Sie sind für jeden spürbar. Das unterscheidet sie von den bisherigen Freiheitseinschränkungen, die schleichend dahergekommen sind. 

Es waren die immer neuen Befugnisse der Sicherheitsbehörden, die neuen Fahndungsmethoden. Insgesamt ist seit Jahrzehnten die Freiheit immer wieder in die Defensive gekommen, besonders nach Anschlägen.

Auch wir haben uns dagegen gewehrt, vor allem mein verstorbener Freund Burkhard Hirsch. Aber der Prozess einer schleichenden Erosion der Freiheitsrechte völlig unbeteiligter Menschen war trotz wegweisender Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht aufzuhalten. 

Sicherheitsdenken könnte sich verfestigen

Die Maßnahmen blieben einfach bestehen, auch nachdem die Gefahr vorüber war. Immer wieder haben wir eine Effizienzkontrolle angemahnt. Sie unterblieb. Auch nach den Anschlägen in den USA blieb vieles, was in einer ersten Reaktion geschah, bestehen. 

Die Grundrechtseinschränkungen in der jetzigen Krise sind so sichtbar und spürbar, dass die berechtigte Hoffnung besteht, dass sie eines Tages verschwinden. Sie werden ja jetzt schon teilweise reduziert. 

Aber dennoch könnte sich ein Sicherheitsdenken verfestigen und eine Art Sicherheitsvirus bleiben. Sorge ist auch geboten, dass der Einsatz elektronischer Maßnahmen sich erweitert und fortsetzt. Die neuen Kommunikationstechniken führen ja generell seit Längerem zu einem massiven Eingriff in die Menschenwürde. 

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Die Menschen werden immer stärker ihrer Selbstbestimmung beraubt, die freien Gesellschaften werden immer stärker manipuliert. Dieser Prozess muss eingedämmt werden. Einschätzung der Gefahren ist Sache der Wissenschaft. Die Schlussfolgerungen sind Sache der Politik.

Befremdlich ist, wenn die Rolle der Wissenschaft diskreditiert wird, und das gerade aus den Reihen einer liberalen Partei, die der Aufklärung und der Vernunft verpflichtet sein muss. Gerade in der Zeit vorsichtiger Lockerungen ist die Begleitung durch die Wissenschaft dringend geboten.

Das wichtigste Instrument zur Bekämpfung der Krise ist der Lockdown. Diese Einsicht verbindet alle Staaten und alle verantwortungsvoll Handelnden in unserer Gesellschaft. Wie das Instrument gehandhabt wird, muss im einzelnen entschieden werden, und zwar immer wieder neu und auf die gegeben Verhältnisse bezogen. 

Die Zeit der flächendeckenden Maßnahmen ist vorbei. Jede Maßnahme muss einen nachweisbaren und konkreten Beitrag zur Eindämmung der Seuche leisten. Wenn es eine mildere gibt, ist diese anzuwenden. 

Die Maßnahme darf auch nicht krass außer Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Covid-19 Erkrankte in angemietete Quarantäneinrichtungen wegzusperren, so wie es in einem Papier des BMI kursierte, wäre etwa unverhältnismäßig. Also: Maß halten und nicht verständlichen Stimmungen im Volk hinterherlaufen.

Ein wesentliches rechtstaatliches Defizit sehe ich in der mangelnden Mitwirkung der Parlamente. Es ist mir unverständlich, dass der Bundestag und etliche Landesparlamente ihre Rechte so ohne Weiteres aus der Hand gegeben haben. 

Allein der nordrhein-westfälische Landtag hat darauf gepocht, über die Fortgeltung der gesundheitlichen Notlage in regelmäßigen Abständen mitzuentscheiden. An diesem Vorwurf ändert nichts, dass – wie die Bundesjustizministerin rechtfertigend anführt – in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages darüber beraten wurde. 

Damit wird dieses Defizit nicht kompensiert. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Bundesgesundheitsminister per Verordnung am Gesetzgeber vorbei agieren kann und dass die gesamte Eindämmungspolitik auf einer Generalklausel im Bundesinfektionsschutzgesetzes beruht.

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Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote, Einschränkungen von Gottesdiensten, von kulturellen Veranstaltungen usw. bedürfen spezialgesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen. 

Sie bedürfen, wie sie im einzelnen auch ausgestattet sein mögen, der Bindung an eindeutige Kriterien, und zwar durch Gesetz und nicht durch Rechtsverordnung. Es reicht also nicht, dass – wie immerhin in NRW – die Feststellung der epidemischen Notlage durch Parlamente erfolgt. 

NRW hat gesetzlich festgeschrieben, dass diese alle zwei Monate erfolgen muss. Immerhin. In Bayern entscheidet die Regierung. Die Parlamente müssen auch über die Fortgeltung der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe durch die sogenannte Coronaschutzverordnungen der Landesregierungen, die die Eindämmung des Virus bezwecken, entscheiden.

Der Schlüssel für die Parlamentsverantwortung liegt in Artikel 80 Abs. 4 des Grundgesetzes, wonach das bisher in den Händen der Landesregierungen liegende Corona-Krisenmanagement an die Zustimmung der Landtage durch Gesetz gebunden werden kann. 

Folgerichtig ist die Initiative der FDP in Niedersachsen, die Gesetzgebungskompetenz in den dortigen Landtag zurückzuholen, um das Defizit dort zu beseitigen.

Föderalismus hat sich bewährt

Eine wirksame Grundrechtskontrolle wird jetzt in der Krise durch die Gerichte ausgeübt. Unterschiedliche Bewertungen durch Gerichte wird es immer geben, wie auch unterschiedliche Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern. Der Föderalismus hat sich bewährt. Er lässt Spielraum für differenzierte regionale Lösungen.

Ein irritierendes Element in der Debatte, war der Beitrag von Wolfgang Schäuble. Dass die Grundrechte, außer dem Prinzip der Menschenwürde nicht absolut gesetzt werden dürfen, ist unstreitig. 

Nur haben sie unterschiedliche Gewichte. „Das menschliche Leben“, so hat Karlsruhe das in dem von mir mit erstrittenen Urteil zur Luftsicherheit entschieden, „ist die vitale Basis der Menschenwürde ... als oberstem Verfassungswert“. Es besteht also eine besondere Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben, auch dann, wenn sein Ende absehbar ist.

Angesichts ihrer Vergangenheit ist von den Deutschen eine besondere Sensibilität gegenüber Freiheit und Menschenwürde zu erwarten – auch jetzt in der Krise.
Gerhard Baum ist Jurist, FDP-Politiker und war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.

Gerhart Baum

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