Migrationspolitik und Flüchtlinge: Warum sichere Grenzen nötig sind
Am Montag treffen sich in Paris Staaten Europas und Afrikas zum Migrationsgipfel. Deutschland muss einräumen, dass offene Grenzen sowie ein Recht auf Einreise aus der Zeit gefallen sind. Ein Essay.
Wer, wie ich, im Jahr 1990 den Fernsehfilm „Der Marsch“ gesehen hat, eine Gemeinschaftsproduktion europäischer Sendeanstalten unter der Federführung der BBC, der glaubt, Parallelen zu erkennen zu aktuellen Bildern von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. Der Film war ein Schreckensszenario. Vor mir sehe ich noch die fiktiven Bilder des endlosen stummen Marsches zehntausender verzweifelter Afrikaner in traditionellen Gewändern, die sich, aus Äthiopien, Somalia und dem Tschad kommend, auf den Weg nach Gibraltar machten. Der Grund: eine ökologische Katastrophe, verursacht durch die Klimaerwärmung und eine fünfjährige Trockenperiode.
Die gelieferten Hilfsgüter aus Europa kamen bei den Hilflosen nie an. Also schleppen sie sich mit letzter Kraft nach Europa in der Erwartung: „Wir kommen, da wir glauben, ihr lasst uns nicht sterben, wenn wir kommen.“ Als am Ende des Films Tausende von Booten nach Gibraltar übersetzen, erwarten sie Panzer und bewaffnete Soldaten.
Als Zuschauer hatte man zwar ein mulmiges Gefühl und fragte sich, ob solch ein großer Marsch aus Afrika nicht eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Doch das hielt nicht lange an. Flüchtlinge aus Afrika gab es in diesen Jahren nur wenige. In Europa begann gerade der Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien, der Hunderttausende aus diesen Ländern als Flüchtlinge nach Europa brachte, insbesondere nach Deutschland. Und dann war da noch etwas Irritierendes. Der BBC-Film ging zwar unter die Haut, transportierte aber gefühlig penetrant die politische Botschaft: Industriestaaten, kümmert euch mehr um die Entwicklungsländer. Viele Dialoge kamen als aufgesagte papierne Floskeln rüber, vorgetragen vom edlen, philosophisch-weise argumentierenden Nordafrikaner Isa El-Mahdi, dem „Ghandi von Afrika“. Seine Gegenspielerin Clare, die irische EU-Kommissarin mit dem permanent schlechten Gewissen, erklärt am Ende des Films den in Europa Gestrandeten: „Wir sind verängstigt. Wir brauchen Zeit. Wir sind noch nicht bereit für euch.“
Die Produktion ist jetzt auf YouTube zu sehen. Nicht wenige Zuschauer halten sie für die filmische Vorwegnahme der heutigen europäischen Flüchtlingssituation: ein sich abschottender Kontinent, der sich selbst genügt. Die Festung Europa, die Schutzsuchende abweist und zurückschickt ins Elend. Die diktatorische Regierungen zu Wächtern ernennt, die Flüchtlinge daran hindern, auszureisen, wie durch den Türkei-Deal. Auch Auffanglager in den Maghreb-Staaten und damit die Schließung der Mittelmeerroute werden gefordert.
Genfer Flüchtlingskonvention ist aus der Zeit gefallen
Für die Nichtregierungsorganisation „Pro Asyl“ und ihren Geschäftsführer Günter Burkhardt, spielt die Bundeskanzlerin dabei eine führende Rolle. Er wirft ihr vor, mit dem EU-Türkei-Deal „den härtesten und nachhaltigsten Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl in Europa“ gestartet zu haben. Er ist überzeugt, dass wir nur mit offenen Grenzen und dem Anspruch jedes Einzelnen auf Einreise und ein Asylverfahren in Europa den Flüchtlingen und ihren Problemen gerecht werden können. Für die Aufrechterhaltung des seit 66 Jahren bestehenden internationalen Rechtssystems, der Genfer Flüchtlingskonvention, sei kein Preis zu hoch. Was für ein Irrtum.
Die Außengrenzen zu sichern und weniger durchlässig zu machen, ist keineswegs das Ende, sondern der Anfang einer gerechteren, aktiven und politisch durchdachten Flüchtlingspolitik. Was würde sich alles ändern lassen – für mehr Menschen als bisher? Man könnte endlich das „Botschaftsasyl“ für tatsächlich politisch Verfolgte einführen, die dann auch außerhalb Deutschlands einen Antrag auf Asyl stellen könnten. In Kanada ist das bereits üblich , in Ausnahmefällen auch bei uns. Neue Schutzzonen wie im Nord-Irak könnten entstehen. Es gäbe mehr Resettlement-Flüchtlinge, als die von der Kanzlerin zugesagten 40 000 jährlich für Europa. Ein Sponsorenprogramm nach dem Vorbild Kanadas wäre aufzubauen. So könnten Helfer aus der Zivilgesellschaft auch finanziell die Verantwortung für die Integration einer Flüchtlingsfamilie übernehmen. Nicht zuletzt könnten die Infrastrukturprogramme in sicheren Regionen mit hoher Flüchtlingsbevölkerung großzügiger ausgestattet werden. Alle diese bekannten Vorschläge wurden immer wieder abgelehnt mit der Begründung, es kämen ja schon sehr viele Flüchtlinge. Die hätten Priorität.
Es ist einfach aus der Zeit gefallen, in einer total veränderten Welt mit Globalisierung, Kommunikation und gestiegenen Einkommen auch in ärmeren Ländern Menschen weiterhin nach Regeln aufzunehmen, nämlich jenen der Genfer Flüchtlingskonvention, die vor 66 Jahren Sinn machten. Länder wie die USA, Kanada und Australien haben das überholte System der neuen Zeit angepasst. In Deutschland wird eine Debatte darüber erst gar nicht geführt, auch aus Angst, ins rechte Lager gerückt zu werden. Der Kern wäre, nicht weniger für Schutzsuchende zu tun, sondern mehr – und gerechter zu handeln. Stattdessen schwingt man die Moralkeule und spricht von einer Schande für Deutschland (die Linke), wenn die libysche Küstenwache mit europäischer Unterstützung Schlepperboote zurück an Land bringt. Italien aber handelt und verteidigt den berechtigten Schutz der europäischen Außengrenzen. Deutschland profitiert davon, wie schon bei der Schließung der Balkanroute, bekennt sich aber nicht dazu.
Sichere Grenzen sind nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Flüchtlingspolitik
Denn wem es gelingt, trotz der engmaschigeren Bewachung der türkischen und der nordafrikanischen Küsten über das Mittelmeer zu kommen, der wird weiterhin ungeprüft als Asylbewerber aufgenommen. Hat die Bundesregierung noch nicht verstanden, dass sie die Flüchtlinge im Vergleich mit denen, die im Herkunftsland oder in der Region bleiben (mehr als 60 Millionen), ohne erkennbare Gründe privilegiert? Sie redet dauernd von der Bekämpfung der Fluchtursachen, aber handelt nach anderen Prioritäten. Die politische Leitfrage kann doch nur lauten: Welche Politik kann den Flüchtlingen insgesamt am meisten helfen? Eine erste Antwort: Offene Grenzen und Asylverfahren für jeden, der hierher kommt, leisten das nicht. Sie verschärfen die Probleme. Ein solches System begünstigt die Jungen, Starken und Wohlhabenderen und es ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, denn die Identität der Bewerber kann nicht geprüft werden. Offene Grenzen und Asylverfahren für jeden sind pures Gold für die Schleusermafia. Sie erzeugen hohe Kosten pro Flüchtling, die viel mehr Menschen in Nachbarregionen von Kriegsländern helfen könnten. Offene Grenzen und Asylverfahren für jeden generieren eine hohe Zahl von abgelehnten Bewerbern, die ausreisepflichtig werden, sich aber gegen die Rückkehr mit Hilfe unserer Gesetze wehren, meistens mit Erfolg. Ihnen das vorzuwerfen, wäre kindisch und böswillig.
Wenn sich die dramatische Situation von 2015 tatsächlich nicht wiederholen soll – und das ist der Wunsch der Kanzlerin – als 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, dann sind Entscheidungen über die Mittelmeerroute jetzt unverzichtbar. Bisher aber bleibt sie eine Antwort schuldig.
Auch im laufenden Jahr haben wieder 129.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Fast alle sind Erstanträge, bis auf 12 000. Derzeit kommen auch die ersten Familienangehörigen von Asylberechtigten nach, wie es human und rechtlich geboten ist.
Wie es heißt, sollen in Libyen noch 700.000 Menschen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa warten. Viele sind junge Männer, die im Herkunftsland wenig zu verlieren haben und auf Geld in Europa hoffen, das sie nach Hause schicken können. Dann steigen sie zur angesehenen Stütze der Großfamilie auf. Das ist zwar ein verständlicher Wunsch, doch kein Grund für einen Asylantrag. Ihre Geschichten sind nicht voller Verzweiflung. Sie träumen einfach von jenem freien, guten Leben, das sie in westlichen Filmen sehen, in den sozialen Medien verfolgen oder über die SMS vermittelt bekommen, die ihnen ihre Landsleute in Westeuropa schicken. Solange wir das individuelle Asylverfahren als wichtigste Säule unserer Flüchtlingspolitik garantieren, kommt das bei ihnen an wie ein Signal zum Aufbruch: Versuche es doch auch. Denn nur, wenn man dabei ist, kommt man nach Europa, nach Deutschland. Man kann zwar alles verlieren, aber auch sehr viel gewinnen. Und ist man erst einmal in Deutschland, kann selbst eine Ablehnung des Antrags auf Asyl zu einem Bleiberecht führen.
Der Migrationsgipfel in Paris am Montag wird zu wenig führen
Der europäisch-afrikanische Regierungsgipfel zur Migrationspolitik, der morgen in Paris stattfindet, ist ein Erbe aus der französischen Kolonialzeit. Der letzte fand dort vor neun Jahren, am 25. November 2008, statt, kurz vor Abschluss der französischen Ratspräsidentschaft. Vertreten waren 80 Regierungsdelegationen – 53 afrikanische Staaten und die damals noch 27 Mitgliedsländer der EU. Ergebnis waren ziemlich nichtssagende Schwüre enger zusammenzuarbeiten. Die Europäer versprachen, die afrikanischen Länder wirtschaftlich stärker zu unterstützen.
Morgen nun werden in kleinerer Runde Staats- und Regierungschefs aus nur sieben Ländern verhandeln, aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Niger, Tschad und Libyen. Außerdem wird die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, teilnehmen. Das zentrale Thema ist erneut die Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Das Treffen könnte inhaltlich ähnlich enden wie 2008, nämlich mit Tauschangeboten. Europa wird unter anderem mehr Entwicklungshilfe anbieten sowie großzügige Hilfen für die Flüchtlinge im Tschad, Unterstützung beim Aufbau von Ausbildungsstrukturen, Schaffung von legalen Arbeitsplätzen mit Hilfe von Wirtschaftsunternehmen und die Aufnahme von Studenten (O-Ton Bundeskanzlerin Merkel im Deutschlandradio-Interview am 14. August), aber auch Anwerbung einer begrenzten Zahl von Arbeitskräften, die in Europa gebraucht werden. Dafür wird sicher die Verpflichtung zur Rücknahme abgelehnter Asylbewerber verlangt und die Einrichtung von „Hotspots“, um mit europäischer Hilfe Asylanträge vor Ort zu prüfen, denn Niger ist Transitland für Hunderttausende auf dem Weg an die afrikanischen Küsten im Norden. Das Treffen bringt sicher noch keinen Durchbruch in der entscheidenden Frage, was afrikanische Staaten leisten sollen und was Europa unter der Führung von Deutschland und Frankreich beiträgt, um die offenen Grenzen zu schließen. Ein Fortschritt ist es allemal, die Herkunftsländer einzubinden und zu unterstützen.
Als "Sehnsuchtsort" hat Deutschland eine Verantwortung, das internationale Flüchtlingsregime neu zu gestalten
Und während die Bundeskanzlerin und Präsident Macron mit ihren Kollegen aus Italien, Spanien, dem Niger und dem Tschad verhindern wollen, dass weiter Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gelangen, wird genau das auch am kommenden Montag passieren. Vollbesetzte kleine und größere Schlauchboote, von Schlepperbanden organisiert, steuern die italienische Küste und die spanische Küste an. In libyschen Gewässern werden Polizeischiffe versuchen, die Flüchtlinge aufzuhalten und nach Libyen zurückzubringen. Gelingt das, werden sie in überfüllten Lagern interniert und misshandelt, wie berichtet wird, bis sie mit Bussen das Land Richtung Süden wieder verlassen müssen. Einige Boote aber erreichen Italien, vielleicht sogar mit Hilfe von zivilen Rettern. Aber nicht alle. Kinder, Frauen, Männer ertrinken auf der gefährlichen Überfahrt durch Kentern oder durch Auszehrung. 2600 Personen sollen es in diesem Jahr schon sein. Das ist die Europäisch-afrikanische Flüchtlingswirklichkeit im Jahr 2017. Wie lange noch soll das so weitergehen?
Als „Sehnsuchtsort“ für Flüchtlinge, hat der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert Deutschland charakterisiert. Ein Kompliment, das zugleich schmeichelt und zur Verantwortung verpflichtet. Unser Land erscheint Flüchtlingen wie ein irdisches Paradies, trotz Auschwitz, dem ewigen Makel deutscher Unmenschlichkeit. Daraus ergibt sich Verantwortung, weil wir die Möglichkeit und die Pflicht haben, ein gerechteres Hilfesystem als bisher für Schutzsuchende zu etablieren.
Barbara John war von 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte der Berliner Senats. Heute ist sie unter anderem Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin und schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne im Tagesspiegel.