Bundestagswahlkampf: Irrtümer in der Flüchtlingspolitik eingestehen
Zu einer ehrlichen Bilanz gehört es, Fehler zuzugegeben. In der Flüchtlingspolitik wurde manches nicht gesehen, manches sollte nicht gesehen werden. Ein Kommentar
Vor zwei Jahren ließ die Bundesregierung - unter Führung von Angela Merkel – täglich Tausende Flüchtlinge einreisen, viele von ihnen unregistriert. Die Willkommenskultur wurde von einer Mehrheit der Deutschen, den meisten Medien und allen im Bundestag vertretenen Parteien unterstützt. Aus der Wirtschaft hieß es, man freue sich über die zusätzlichen Arbeitskräfte, die Kanzlerin sagte „Wir schaffen das“, Mahner und Warner gerieten in den Verdacht der Fremdenfeindlichkeit.
Zwei Jahre später lässt sich feststellen: Das Abendland ist nicht untergegangen, die Scharia nicht eingeführt und Deutschland nicht abgeschafft worden. Dafür sprudeln die Steuereinnahmen und die Arbeitslosigkeit ist auf einem derart niedrigen Stand, dass manch einer von Vollbeschäftigung redet. Alles paletti also.
Wirklich? Zu einer ehrlichen Bilanz gehört, Irrtümer einzugestehen. Manches wurde nicht gesehen, manches sollte nicht gesehen werden. Vielen Menschen sitzt doch die Angst im Nacken, das Geschäft der Rechtspopulisten zu betreiben. Dabei geschieht das eher durchs Gegenteil. Wer die Dinge beschweigt oder beschönigt, nährt die unselige Mär von einer abgehobenen, humanitätsduseligen Kaste, die sich Multikulti auf die Fahnen geschrieben hat.
Über ein zweites Wirtschaftswunder orakelt keiner mehr
Sagen, was ist: Das Motto muss gültig bleiben. Selbst wenn Beifall von der falschen Seite droht. Drei Stichworte dazu. Erstens: Die Integration der Flüchtlinge wird lange dauern und viel Geld kosten. Nur etwa zehn Prozent haben einen Hochschulabschluss, vierzig Prozent zwar Arbeitserfahrung, aber keine Berufsausbildung, knapp sechzig Prozent keinen Schulabschluss. Über ein zweites Wirtschaftswunder orakelt keiner mehr, die optimistischen Prognosen sind revidiert. Scheitert die Integration in den Arbeitsmarkt, könnten die Staatskassen in dreistelliger Milliardenhöhe belastet werden. Das hat das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Böll-Stiftung berechnet.
Zweitens: Die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderer ist 2016 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 50 Prozent gestiegen. Die Gewaltkriminalität nimmt seit dem Herbst 2015 wieder zu. Geflüchtete stellen als Tatverdächtige einen überdurchschnittlich hohen Anteil auf dem Gebiet der Körperverletzung, beim Taschendiebstahl, bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Allerdings kommt es vor allem in Flüchtlingsheimen zu einer Häufung von Straftaten, in Baden-Württemberg beispielsweise sind es knapp zwei Drittel der insgesamt von Zuwanderern verübten Körperverletzungen.
Die Zahl der Flüchtlinge steigt, die unter Terrorverdacht stehen
Drittens: Laut Bundeskriminalamt und Generalbundesanwalt steigt die Zahl der Flüchtlinge, die unter Terrorverdacht stehen. Bereits vor einem Jahr lagen den Sicherheitsbehörden mehr als 400 Hinweise auf mögliche Extremisten unter den Schutzsuchenden vor. Zwar waren an den meisten islamistisch motivierten Terroranschlägen in den vergangenen zwei Jahren in Europa keine Flüchtlinge beteiligt. Aber die Behauptung, zwischen der Zuwanderungsbewegung und der erhöhten Terrorgefahr bestünde kein Zusammenhang, kann als widerlegt gelten.
Bundesregierung und parlamentarische Opposition, getragen von einer bewundernswert hilfsbereiten Stimmung in der Bevölkerung, trafen im Herbst 2015 eine folgenschwere Entscheidung. Zurückdrehen lässt sich die Zeit nicht mehr. Wenn in der Politik je etwas alternativlos genannt werden darf, dann ist es die möglichst rasche Integration der Geflüchteten. In der Bildung kommt die Bekämpfung von Homophobie und muslimisch geprägtem Antisemitismus hinzu.
Merkels Flüchtlingspolitik hat Deutschland verändert. Ob Fehler gemacht wurden, sollen Historiker beurteilen, Politiker müssen nach vorne schauen. Aber wenn sie sich vor einer ehrlichen Lageanalyse drücken und vor überzeugenden Integrationsstrategien mit Plänen zur Verhinderung einer erneuten Flüchtlingskrise – dann haben die Kontrahenten im Wahlkampf jede Schärfe verdient.