Sterbehilfe: Warum sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil Zeit lässt
Etliche Beschwerden zum Paragraf 217 über Sterbehilfe liegen in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht. Eilig haben es die Richter nicht. Zumal dem Senat der achte Mann noch fehlt.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe brütet derzeit über einem knappen Dutzend Verfassungsbeschwerden gegen das im Jahr 2015 eingeführte strafrechtliche Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe, Paragraf 217. Es war ein lange umstrittenes Gesetz, das dann doch mit einer überraschend klaren Mehrheit von 360 gegen 233 Stimmen verabschiedet worden ist. Es richtet sich gegen Sterbehilfe-Vereine, die ihre Dienstleistung jahrelang offensiv angeboten haben. Bestraft wird mit Haft bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, wer „geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“, dass andere sich töten können.
In den Karlsruher Verfahren könnten sich die Richter auch zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts äußern und dessen Sterbehilfe-Urteil indirekt widersprechen. In der Politik wird befürchtet, dass sich nun auch Mitarbeiter des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) strafbar machen, wenn sie tödliche Medikamente freigeben.
Zudem wird dem Bundesverwaltungsgericht vorgeworfen, es übergehe den in diesem Paragrafen 217 zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers, behördlich unterstützte Sterbehilfe generell zu untersagen. Das Bundesverwaltungsgericht sieht da kein Problem. Eine Erwerbserlaubnis „im besonderen Einzelfall“ sei mit den Geschäften privater Suizidhelfer nicht vergleichbar. Es werde auch kein „staatliches Angebot assistierten Suizids geschaffen“, sondern dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts Rechnung getragen.
Verfassungsrichter können das Urteil ignorieren
Die Bundesverfassungsrichter können das Urteil aus Leipzig aber auch komplett ignorieren. In Karlsruhe geht es vorrangig um die Rechte betroffener Vereine und Ärzte sowie einzelner Sterbewilliger, die sich für eine großzügigere Tolerierung organisierter Suizidassistenz aussprechen.
Einer dieser Vereine ist „Sterbehilfe Deutschland“ des früheren Hamburger Justizsenators Roger Kusch. Für ihn hat der Tübinger Strafrechtler Bernd Hecker eine Beschwerde in Karlsruhe eingereicht, in der er dem Gesetzgeber einen unverhältnismäßigen Eingriff vorwirft. Hecker argumentiert damit, dass Suizidassistenz grundsätzlich straffrei ist. Daher sieht er es als widersprüchlich an, wenn seriöse Vereine verfolgt würden, die Sterbewünsche individuell prüfen und nur bei medizinischer Indikation Hilfe leisteten: „Nicht gewerbsmäßig handelnde Sterbehilfeorganisationen können die Ernsthaftigkeit und Willensmängelfreiheit eines an sie herangetragenen Selbsttötungswunsches nicht nur weitaus kompetenter, sondern auch distanzierter und unabhängiger beurteilen als ein Laie aus dem persönlichen Umfeld des Suizidwilligen“, heißt es in einem Aufsatz des Juraprofessors.
Hecker sieht es zwar als legitimes Ziel, Einzelne davor zu schützen, sich übereilt oder unter Druck für den Tod zu entscheiden. Dennoch sei Suizidbeihilfe seit 140 Jahren in Deutschland straflos. In der neuen Vorschrift sieht er eine „partielle Abkehr“ von diesem Prinzip und erkennt keinen Grund, sie ohne gesicherte empirische Befunde beizubehalten.
Folgen die Verfassungsrichter solchen Argumenten, könnten sie den neuen Paragrafen für null und nichtig erklären. Dass dies eher unwahrscheinlich ist, zeigte sich bereits darin, dass die Richter Eilanträge dazu abgelehnt haben. Betroffene, die sterben wollten, könnten schließlich „professionelle ärztliche Unterstützung“ in Anspruch nehmen, „sofern der betreffende Helfer nicht das Tatbestandsmerkmal der Geschäftsmäßigkeit erfüllt“. Es hat also Zeit. Es steht derzeit noch nicht einmal fest, dass es zu einer mündlichen Verhandlung kommt. Und wenn, dann wohl nicht mehr in diesem Jahr.
Entscheiden wird der Zweite Senat unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle – eben jenem Spitzenjuristen, der kürzlich anmahnte, dass der Staat Urteile zu befolgen hätte. Allerdings fehlt wohl noch ein Richter, um die Achterriege zu komplettieren. Das Gericht hatte beschlossen, das Verfahren wegen möglicher Befangenheit von Richter Peter Müller besser ohne diesen zu führen.
Müller, langjähriger saarländischer Ministerpräsident, hatte sich zusammen mit Kirchenleuten für die „Unverfügbarkeit des Lebens“ ausgesprochen und das Treiben von Organisationen wie „Dignitas“ scharf verurteilt. Vor allem hatte er 2006 bereits einen Gesetzentwurf im Bundesrat vorgelegt, der dem später verabschiedeten Paragraf 217 bis in die Details gleicht. Für einen vollzähligen Senat muss jetzt ein Ersatzrichter aus dem Ersten Senat ausgelost werden. neu