Terror in Paris: "Warum schon wieder wir?"
Stadt der Angst: Nach den Anschlägen ist Paris wie erstarrt, in Trauer, Verzweiflung. Zahlen von Toten und Verletzten bleiben das einzig Fassbare. Und die sind schrecklich. Eine Reportage.
Nichts wird sein wie vorher. Aber es muss weitergehen. Paris lebt – auch wenn es am Freitagabend ein Stück gestorben ist. Die Stadt befindet sich, wie es der französische Präsident François Hollande ausdrückt, „im Kriegszustand“. Schon wieder ist der Tod über eine Metropole gekommen, die auch ein Synonym ist für das freie Leben. Zum zweiten Mal in einem Jahr, nach den Angriffen auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ im Januar: Angst und Schrecken und viele unschuldige Menschen, die von Terroristen ermordet wurden.
Eigentlich sind die Anschläge in Paris Anschläge auf unser aller Leben.
Michel Henry steht im neunten Stock einer ehemaligen Hochgarage im elften Arrondissement, Rue Béranger. Es sind die Redaktionsräume der französischen Zeitung „Libération“, Michel Henry ist stellvertretender Ressortleiter der Außenpolitik. In einem Monat ziehen sie in ein anderes Gebäude, das soll heute Nacht gefeiert und betrauert werden. Lange Tische sind aufgestellt, ein Discjockey legt auf, Menschen schenken sich Wein ein. Die Redaktion hat Gäste eingeladen, Freunde, Journalisten von „Le Monde“, freie Autoren. Ihnen allen bietet sich durch die weiten Fenster ein spektakulärer Blick über das nächtliche Paris. Es ist Freitag, der 13. November, 21.30 Uhr. Wochenendstimmung. Dann erhalten die ersten Gäste Kurznachrichten, „alles ok bei dir?“, und bald werden es mehr. Bis irgendwann jeder im Raum telefoniert. So bahnt sich der Horror seinen Weg.
Als klar wird, dass die Party vorbei ist, stürmen einige Journalisten aus der Redaktion, fünf Minuten schnellen Schritts ist die Rue de la Fontaine au Roi entfernt, wo Schüsse gefallen sein sollen. Gastjournalisten bekommen Arbeitsplätze gestellt. „Wir wussten noch nicht viel“, sagt Michel Henry Samstagnachmittag am Telefon, „es war nicht klar, ob das nun eine Bandenschießerei ist oder Terrorismus.“ Die Nachrichten werden immer konfuser, immer entsetzlicher. Schießerei auch auf der Rue de Garonne und auf dem Boulevard Voltaire, beides ebenfalls keine fünf Minuten entfernt. Dann die Explosionen, die Geiselnahmen. Stade de France. Bataclan. Und bei Libération werden die „nötigen Maßnahmen“ ergriffen, wie es heißt. Die sind sie gewohnt.
Ständig SMS, ständig die Frage: Geht's dir gut?
Im siebten Stock des Gebäudes waren bis vor Kurzem die Überlebenden der Redaktion von „Charlie Hebdo“ zu Gast. Immer wieder gab es auch Morddrohungen gegen Journalisten von Libération. Vor der Tür stehen schwerbewaffnete Gendarmen, zwei weitere an Straßenecken rechts und links, der Eingang ist verbarrikadiert, es gibt eine Schleuse zur Identifizierung aller Personen, die das Gebäude betreten wollen. Die Angst vor Terror ist an wenigen Orten so präsent wie hier.
Mittlerweile ist das Alltag für den Journalisten Michel Henry.
Um 22 Uhr verschließen die Gendarmen die Türen, verhängen eine Ausgangssperre. Alle Ressortleiter werden beauftragt sicherzustellen, dass ihre Redakteure wohlauf sind. „Es war bizarr. Viele meiner Kollegen leben hier im Viertel“, sagt Henry, „wir mussten gleichzeitig Augenzeugen für die Zeitung finden und nachfragen, ob es Freunden und Bekannten gut geht.“ Telefone klingeln – „Gott sei Dank geht es dir gut“ – Menschen laufen aufgeregt durch die Räume. Alle sind persönlich betroffen.
Lesen Sie, was im alten Konzertsaal Bataclan geschah
Um zwei Uhr bekommen sie die Nachricht, dass sie das Haus verlassen dürfen. Als Michel Henry eine halbe Stunde später auf dem weitläufigen Place de la République steht, ist der leer. Die Metro fährt nicht. Dem Redakteur ist in diesem Augenblick noch nicht klar, was wirklich alles geschehen ist, wie viele Tote es gab. Michel Henry läuft nach Hause und fällt in einen sehr unruhigen, kurzen Schlaf.
Eigentlich war schon vorher überall in Paris Polizei
Der Albtraum hat tatsächlich stattgefunden. Nach den Anschlägen auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ muss eine ganze Nation jetzt erneut versuchen zu verstehen, was überhaupt passiert ist. Dabei hatte sich schon zuvor viel verändert. Ministerpräsident Manuel Valls hat die Sicherheitskräfte aufgerüstet. 425 Millionen Euro will er binnen drei Jahren in Geheimdienste, Innenministerium und Polizei stecken, knapp 3000 neue Stellen schaffen. Schon seit Januar sieht man allerorten Polizisten mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen. Sie gehören inzwischen zum Stadtbild, und an den Hauptattraktionen wird man als Tourist durchgecheckt wie an den Sicherheitssperren internationaler Flughäfen.
Umso schlimmer ist der Schock, viele fragen sich: Warum schon wieder wir?
Die Attentäter kommen plötzlich und schießen immer sofort
Noch sind alle erstarrt. Der notwendige Trotz, die Zuversicht, das Gefühl, weitermachen zu können – das wird Zeit brauchen. Zahlen sind das einzig Fassbare, schrecklich sind auch sie: 129 Tote und rund 352 Verletzte bis zum Samstagabend, von denen sich 99 in kritischem Zustand befinden – das ist nach Polizeiangaben die vorläufige Bilanz. Aber das sind nur nüchterne Zahlen. Um den Abgrund dahinter zu verstehen, die Kälte der Täter, muss man sich vor Augen führen, was die Terroristen allein im Konzertsaal Bataclan anrichteten: ein Massaker.
In diesem Theater am Voltaire Boulevard, wo früher auch Operette gespielt wurde, inzwischen aber vor allem Rockkonzerte stattfinden, tritt an diesem Abend die kalifornische Band Eagles of Death Metal auf. Rund 1500 Zuschauer sind gekommen, das Konzert ist ausverkauft. Es läuft bereits eine halbe Stunde, die Band spielt gerade ihren sechsten Song, als gegen 22 Uhr erste Schüsse fallen. Augenzeugen zufolge drängen die Attentäter von hinten in den Saal. Sie sind schwarz gekleidet, aber nicht maskiert, einer hält eine Maschinenpistole in der Hand – deren Salven übertönen die Musik aus den Boxen. Die Band bricht sofort ab, wirft sich auf der Bühne zu Boden. Julian Dorio, der Schlagzeuger der Gruppe, wird später sagen, die Band habe erst nichts sehen können, weil die Scheinwerfer von der Decke blendeten.
Auch die meisten Konzertbesucher ducken sich, viele schreien. Die Attentäter zielen nicht etwa in die Luft, sondern direkt in die Menge. Sie schießen, bis die Magazine leer sind. Dann laden sie nach und feuern erneut. Einem Augenzeugen zufolge bricht Chaos aus. Zuschauer versuchen, sich hinter anderen zu verstecken – auch unter den Körpern bereits Getroffener. „Ich begann, Richtung Bühne zu kriechen“, sagt der Augenzeuge, „über andere Menschen drüber.“
Einigen Zuschauern gelingt es, durch einen Notausgang in die Seitenstraße zu flüchten, dabei müssen sie über Leichen steigen. Manche ziehen Schwerverletzte hinter sich her. Die Musiker können sich hinter die Bühne retten und dort durch eine Hintertür entkommen.
Die Schießerei dauert mehrere Minuten. Anschließend müssen die Zuschauer, auch die schwerverletzten, auf dem Boden bleiben. Die Attentäter tragen Sprengstoffwesten und drohen, jeden zu erschießen, der sich bewegt. In den folgenden zwei Stunden machen sie diese Drohung mehrfach wahr.
Das 10. und 11. Arrondissement sind die neuen In-Viertel
Inzwischen hat die Polizei die Straßenzüge um das Bataclan weiträumig abgesperrt. Anwohner und Passanten, die hinter den Barrieren stehen bleiben, wissen lange Zeit nicht, was das Großaufgebot von Spezialkräften und Sanitätern zu bedeuten hat. Ein Gerücht geht um, wonach es in dem Konzerthaus einen Brand gegeben habe. Doch immer wieder sind auch Knallgeräusche zu hören. Das sind die Schüsse.
Um 0.15 Uhr stürmt eine Spezialeinheit der Pariser Polizei, die Brigade de recherche et d’intervention, das Theater. Es ist dieselbe, die im Januar den jüdischen Supermarkt gestürmt hat, in dem der Terrorist Amedy Coulibaly Geiseln hielt. Die Polizisten können nur einen Attentäter erschießen. Den drei anderen gelingt es, ihre Sprengstoffgürtel zu zünden, dabei reißen sie viele weitere Geiseln mit in den Tod.
Ein bisschen ist es hier wie in Berlin-Friedrichshain
Eigentlich ist das 10. und 11. Arrondissement, in dem auch der Club beheimatet ist, das neue Trendviertel von Paris. Aber jetzt, nach dieser Nacht des 13. November kann man sich nicht vorstellen, wie das Viertel aussieht, wenn es lebt. Dann drängen sich hier am Ufer des Canal St. Martin und in den Straßen drumherum die Pariser Hipster: Männer, die schmale Hosen und Bart tragen, Frauen in schmalen Kleidchen und Turnschuhen. Ein bisschen ist das hier so wie im Berliner Friedrichshain. In einem Comicladen hängt eine liebevolle Illustration, auf der ein Clochard eine Brachfläche zwischen zwei Pariser Stadthäusern räumt, um einem modernen Neubau Platz zu machen, in den dann zu unfassbaren Preisen die junge urbane Mittelschicht Wohnungen mit bodentiefen Fenstern bezieht.
Man isst hier an jeder Ecke gut und vegan oder exotisch. Dazwischen drücken sich Pop-up-Stores voller dezent schicker Kleinmöbel und Kunstobjektchen, es gibt den besten Filmladen dieses filmverliebten Landes und Buchläden, die sich nicht mehr „Librairie“ nennen, sondern „Art Design Bookstore“. Auffallend viele Menschen fahren Fahrrad, und bis vorgestern hätte man meinen können, das sei in dieser Stadt, die erst seit jüngstem Radwege auf ihre schmalen Autospuren pinselt, das einzig wirklich Gefährliche.
Dann kommt dieser Freitagabend: Ein Auto hält gegen halb zehn vor einem der Restaurants, dem „Le Petit Cambodge“, das nur knapp einen Kilometer weiter nördlich vom Bataclan entfernt liegt.
Selbst um diese Jahreszeit sitzen noch Menschen auf der Terrasse, die gar keine Terrasse ist, sondern nur ein schmaler Streifen auf dem Trottoir unmittelbar vor den großen Fensterflächen, durch die man direkt nach hinten in die offene Küche schauen kann. Man zeigt gerne, was man kochen kann, nämlich vor allem „BoBun“, ein kambodschanisches Nudelgericht in unzähligen Variationen.
Wie überall, wo die Attentäter in dieser Nacht auftauchen, feuern sie sofort los.
Ein Anwohner denkt, es handle sich um ein Feuerwerk. Frankreich habe wahrscheinlich das Spiel gewonnen, und die jungen Leute auf der Straße feierten mal wieder. Der Nachbar geht zum Fenster seiner Wohnung im vierten Stock und blickt auf zwei dunkle Autos. Das hintere könnte ein Renault sein, es hat ein belgisches Kennzeichen. Davor steht ein Mann mit Maschinengewehr.
"Diese Bilder vergisst man nicht."
Der Nachbar heißt Hitoshi L., seinen vollen Namen will nicht nennen, er fürchtet die Rache der Attentäter. Als die Autos davonfahren, rennt er die Treppen hinunter. „Vielleicht war das unklug“, sagt er später, „es hätte ja noch jemand da sein können. Aber ich musste wissen, was passiert war.“ Er tritt auf die Straße, Menschen weinen und schluchzen, sie telefonieren nach der Polizei und der Feuerwehr.
Hitoshi L. sieht vier Leichen unter den Tischen auf der Terrasse der Bar Carillon. Sie liegen nur fünf Meter von ihm entfernt. „Ein Mann beugte sich über eine tote Frau und schrie wirres Zeug. Niemals zuvor hatte ich einen toten Menschen gesehen, und diese hier waren blutüberstörmt und zerfetzt.“ Ein Nachbar kommt ihm entgegen, Hitoshi L. rät ihm umzukehren. „Diese Bilder“, sagt er, „vergisst man nicht. Zwei Minuten hat mein Ausflug gedauert. Zwei Minuten zu lang.“
Hitoshi L. kehrt zitternd zurück in die Wohnung, wo sein Mann auf ihn wartet. Mehrere Minuten lang weint er. Aus dem Fenster beobachten sie, wie die Polizei eintrifft und die Leichen bedeckt. Hitoshi L. fragt sich, ob wohl einer seiner Freunde auf dem Konzert war. Gleichzeitig trudeln hunderte von Nachrichten seiner Bekannten ein, die wissen, wo er wohnt. Hitoshi L. kann die ganze Nacht nicht schlafen. „Auch mit geschlossenen Augen sah ich diese Leichen vor mir.“
Ein abgeriegeltes Viertel
Am nächsten Morgen kommt er zu spät zur Arbeit, weil die Polizei sein ganzes Viertel abgeriegelt hat. Erst um acht darf er raus. „Dann musste ich mit der Metro fahren – das hat mir Angst gemacht.“ Aber als er die vielen Polizisten dort sieht, beruhigt er sich.
In seiner Straße, sagt Hitoshi L., ist es jetzt voller denn je. Die Autos kommen kaum mehr durch, weil so viele Menschen Blumen und Kerzen an die Stellen legen wollen, wo die Schießerei stattgefunden hat.
Mindestens zwölf Menschen sterben im „Le Petit Cambodge“ und in der Bar „Le Carillon“. Im Klub Bataclan werden mehr als 100 Konzertbesucher getötet.
Die Katastrophe betrifft alle Pariser, auch jene, die den Abend nicht in der Nähe der Tatorte verbracht haben. Menschen wie Lise Caillat und Akim Aouadi, beide Mitte 30. Sie arbeitet als Übersetzerin, er bei einer Versicherung. Früher haben sie ganz in der Nähe des kambodschanischen Restaurants gelebt, sie kennen das Viertel gut und waren dort mehrfach essen. Sie wissen: Wenn man irgendwo viele Menschen auf einmal angreifen will, dann ist das der richtige Ort.
Lesen Sie, wie normale Pariser Bürger das Geschehene erlebten
Lise Caillat und Akim Aouadi versuchen, die Taten mit anderen Anschlägen zu vergleichen. Es ist diesmal anders als nach den Attentaten auf „Charlie Hebdo“, denken sie. Die Leute, die jetzt getroffen wurden, haben nichts gezeichnet und sich nicht politisch geäußert. „Es sieht so aus, als seien wir jetzt das Hauptziel dieses Terrors“, sagt Akim Aouadi. Und dass es keinen Grund gibt zu glauben, dass es nicht gleich noch einmal passiert. „Wir trösten uns damit, dass Paris so groß ist, dass es uns vielleicht nicht treffen wird.“
Am Samstag entscheiden sie, dass der Fernseher und das Radio erst mal aus bleiben. Aber sie denken trotzdem die ganze Zeit nur daran. „Es fühlt sich an, als hätte man eine Depression“, sagt Lise Caillat. Eigentlich sind sie abends zum Essen bei Freunden eingeladen, aber niemand traut sich raus. Lise Caillat wird am Montag von daheim aus arbeiten, sie will in keine Metro zum Büro steigen. Sie haben Angst, dass es weitere Anschläge geben wird, aber sie haben noch größere Angst vor der Traurigkeit, die sich jetzt über die Stadt legt.
Die erste Reaktion des französischen Präsidenten François Hollande kommt noch mitten in der Nacht. Es ist fast 2 Uhr, als er vor dem Konzertsaal Bataclan eine Stellungnahme vor laufenden Kameras abgibt, blass und müde, aber doch irgendwie auch entschlossen, sagt er: „Frankreich lässt sich nicht beeindrucken. Das ist Barbarei.“ Am nächsten Tag wird er sagen: „Was sich gestern ereignet hat, ist ein Kriegsakt, und dem gegenüber muss das Land die angemessenen Entscheidungen treffen.“
Natürlich ist zu diesem Zeitpunkt schon längst auch die deutsche Politik alarmiert. Dabei war dieser Freitag aus deutscher Sicht für viele Bürger vor allem als gemütlicher Abend vor dem Fernseher geplant. Kein Abendspiel der Bundesliga, sondern ein Freundschaftsmatch steht an, und immerhin ein alter Klassiker: Frankreich gegen Deutschland. Die Partie hat an sich keine große sportliche Bedeutung, der Weltmeister aus Deutschland und sein Bundestrainer Jogi Löw wollen vor allem Spieler und Positionen ausprobieren, die Qualifikation für die kommende Europameisterschaft ist geschafft. Für die Franzosen sowieso, denn die sind die Gastgeber der EM 2016 und damit automatisch qualifiziert.
Natürlich ist zu diesem Zeitpunkt schon längst auch die deutsche Politik alarmiert. Dabei war dieser Freitag aus deutscher Sicht für viele Bürger vor allem als gemütlicher Abend vor dem Fernseher geplant. Kein Abendspiel der Bundesliga, sondern ein Freundschaftsmatch steht an, und immerhin ein alter Klassiker: Frankreich gegen Deutschland. Die Partie hat an sich keine große sportliche Bedeutung, der Weltmeister aus Deutschland und sein Bundestrainer Jogi Löw wollen vor allem Spieler und Positionen ausprobieren, die Qualifikation für die kommende Europameisterschaft ist geschafft. Für die Franzosen sowieso, denn die sind die Gastgeber der EM 2016 und damit automatisch qualifiziert.
Zugegeben hat der deutsche Fußball gerade Probleme, massive, aber diese haben bis zum Freitag nichts mit Terror zu tun, sondern mit dem Skandal und den finanziellen Machenschaften rund um die Bewerbung für die Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land. Auch im Hotel der deutschen Mannschaft, bei Spielern, Trainern und Funktionären, ist die Geschichte ein großes Thema. Dann plötzlich muss die Nationalmannschaft ihr Hotel verlassen, kurz vor dem Training am Vormittag heißt es: Es gibt eine Bombendrohung. Drei Stunden lang dürfen die Gäste aus Deutschland nicht mehr zurück, am Abend wird Bundestrainer Jogi Löw sagen, dass die Vorbereitung „dahin“ war, also unmöglich.
Dennoch ist die Drohung vom Vormittag fast vergessen, als es abends im Stadion in der 16. Minute knallt. So laut, dass viele der 78 000 Zuschauer instinktiv wissen, dass dieses Geräusch kein herkömmlicher Böller ausgelöst haben kann. Auch Spieler auf dem Feld zucken zusammen, man kann es im Fernsehen gut sehen, spielen dann aber weiter. Das Stadion vibriert leicht. Trotzdem hat zu diesem Zeitpunkt noch niemand eine Ahnung, was außerhalb der Arena los ist. Das ändert sich nun rasch, denn fast jeder hat ein Smartphone. Und Twitter. Die Zahl der Toten steigt. Paris ist schon bald abgeriegelt, da geht in Frankreichs Nationalstadion das Spiel gegen 22.45 Uhr zu Ende.
Der Berliner Fotograf muss im Stadion bleiben
Auch der freie Fotograf Matthias Koch aus Berlin erlebt die Nacht zunächst im Stadion. Als die Explosionen in Halbzeit eins zu hören sind, denkt er, dass auf der Gegengerade mehrere Leute Hörschäden erlitten haben dürften. Erst am nächsten Tag wird Matthias Koch erfahren, dass vor den Toren des Stadions ein Mann die Arena betreten wollte, der eine gültige Eintrittskarte besaß, aber auch einen Sprengstoffgürtel unter der Jacke trug. Als die Security diesen entdeckt, sprengt sich der Selbstmordattentäter in die Luft.
Kochs Nachbar stellt fest, dass sich auf der Haupttribüne die Reihen der hochrangigen Politiker merklich gelichtet haben. Frankreichs Staatspräsident François Hollande sieht die beiden Tore seines Teams jedenfalls nicht mehr. Auch nicht der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Auf dem Handy des Journalisten kommt eine SMS seiner Tochter an, es habe Schießereien in Paris gegeben. Aber Koch sieht sie erst sehr spät in dieser Nacht. Dann rennt der Sprecher der deutschen Fotografen Markus Gilliar an ihm vorbei und brüllt: „Weg hier.“ Koch nimmt den Blick vom Laptop und sieht, wie schon hunderte Fans in den Innenraum des Stadions stürmen.
Warum die Fans die Absperrungen überwinden, ist erst unklar. Koch fragt Anhänger, was los sei. Vielen ist die Angst ins Gesicht geschrieben. Einer sagt nur ein Wort: „Terror“.
In Berlin kontrolliert die Polizei die Pässe an der Gangway
Die deutschen Fotografen ziehen sich wie die Spieler in die Katakomben des Stadions zurück. Erst drei Stunden nach Spielende wagen sich Koch und ein Kollege zu Fuß vor das Stade de France. Nach 400 Metern können sie ein Taxi anhalten. Paris wirkt gespenstisch. Zwischenzeitlich wird das Taxi von Polizeiwagen gestoppt, die zwei Krankenwagen eskortieren. Endlich zurück im Hotel sind nur mehr drei Stunden Schlaf möglich. Das Gehirn kann nicht abschalten.
Am Samstagmorgen, auf dem Weg zum Flughafen Paris Orly, wirkt die Stadt verschlafen und leer. Müllfahrer tun ihren Job. In den Cafés brennt schon Licht. Der Louvre liegt noch in der Dämmerung, als die Sportfotografen ihn passieren. Polizisten oder Soldaten sind erst am Flughafen zu sehen – dort aber mit Maschinenpistolen im Anschlag.
Die Sicherheitskontrollen sind verschärft und dauern länger. Koch muss alle Kameras und Objektive einzeln in die Boxen packen. Doch die Flüge gehen fast ausnahmslos pünktlich. Dass etwas Besonderes passiert ist, merkt er erst wirklich bei der Ankunft in Berlin-Schönefeld. Direkt beim Betreten der Gangway kontrolliert die Polizei die Pässe.
Während der deutsche Fotograf die halbe Nacht im Stadion verbringt, sitzt gegen 22 Uhr Anne-Julie Martin mit Freunden im „Lapin Blanc“, einer kleinen Tapas-Bar, und wundert sich. Hier, um die Metrostation Ménilmontant, beginnen die Boulevards des 11. Arrondissements schmaler zu werden, winden sich die Hügel von Belleville, im 20. Arrondissement, hinauf. Normalerweise wird im „Lapin Blanc“ laut geredet, klirren Gläser. Anne-Julie Martin, 32 Jahre alt, Journalistin, aber sieht, wie Lichter gelöscht werden, hört, wie Musik abgestellt wird. Der Chef schließt den Laden. Etwa 40 Menschen sind in der Bar – eingeschlossen. Anne-Julie Martin hat kein Netz mit ihrem Smartphone, lässt sich von Freunden auf den neuesten Stand bringen.
Aufgeregtes Raunen geht durch die Bar, Schüsse seien gefallen, Geiseln genommen, irgendwas hat das auch mit dem Fußballspiel zu tun. Man weiß nichts Genaueres. Nur eines ist bekannt: Sie sind mittendrin.
Ménilmontant liegt zehn Minuten entfernt vom Boulevard Voltaire, dem Bataclan, 15 Minuten vom Canal Saint-Martin, der Rue Alibert, der Rue de la Fontaine au Roi. Die Gegend gehört zum selben Ausgehgebiet, die urbane Jugend, junge hippe Erwachsene, strömen hierher. Jahr für Jahr kann man beobachten, wie neue Bars und Cafés öffnen, jeweils ein bisschen weiter oben auf dem Hügel. „Wir waren so nervös“, sagt Martin, „wir wussten nicht, was los ist.“ Als bekannt wird, dass mehrere Cafés angegriffen wurden, fühlt sich die Gruppe nicht mehr sicher. Sie beschließt: Wir gehen zu einer Freundin um die Ecke und verlassen das Café. Das Apartment der Freundin ist fünf Minuten Laufweg entfernt. Unterwegs ist die Stimmung gedrückt. Anne-Julie Martin schreibt ihren Eltern eine SMS – wie geht es euch? – schreibt ihrem Freund, einigen Freunden. Ihr Freund antwortet, eine Bekannte sei bei dem Konzert im Bataclan gewesen – und von einer Kugel in den Rücken getroffen worden. Wie es ihr gehe, wisse er nicht.
Im Apartment der Freundin drängen sich zehn Leute auf 32 Quadratmetern und hören Radio, hören mehr von dem Schrecken, der vor der Tür passiert. Sie können es nicht fassen.
Weil sich Anne-Julie Martin nicht aus dem Haus traut, übernachtet sie bei einem Nachbarn der Freundin. Im Angesicht des Terrors werden Mietshausnachbarn zu Herbergsvätern und -müttern. Am Morgen sagt Martin: „Ich habe Angst, dass das nur der Anfang von etwas ist.“
Eigentlich wollte die Tochter am Samstag im Viertel babysitten
Auch die Milcents, eine ganz normale Pariser Familie, sind von dieser Angst nicht frei. Sie leben im Norden der Stadt in der Nähe der Porte de la Chapelle, 20 Busminuten südlich vom Stade de France. Am Samstagmorgen berichtet Béatrice Milcent über die Stunden des Schreckens und den Tag danach, an dem plötzlich alles anders ist. „Fühlt sich an wie eine Ausgangssperre“, sagt die 50-Jährige. Als sich die Nachrichten vom Terrorangriff verbreiten und ihre 21-jährige Tochter Ségolène nicht wie geplant mit dem Zug aus Lille zurückkommt, macht sie sich Sorgen. Selbst als die Tochter wieder da ist, bleibt die Angst.
Mit ihrer jüngsten Tochter Marylou hatte Béatrice Milcent am Samstag ursprünglich einen Museumsbesuch geplant, Ségolène wollte am Abend im 10. Arrondissement babysitten.
Wie ernst die Lage ist, hat Milcent bemerkt, als sie nach Mitternacht eine Mail erhält, in der die Musikschule, wo Marylou Saxophonunterrricht nimmt, sämtliche Kurse für den Samstag absagte. Die Mail endet mit den Worten: „Ich hoffe, dass Sie alle heute Abend gesund sind.“ Sie schreibt zurück, dass es ihr gut gehe. Bis zwei Uhr morgens verfolgt Béatrice Milcent mit dem Kopfhörer im Bett die Nachrichten, und am Morgen immer so weiter. Permanent rufen Bekannte bei ihr an, die wissen wollen, ob es allen gut geht. Sie meint: „Wenn ich Hollande höre, der sagt, dass wir im Krieg sind, dann muss ich sagen: Ja, genauso ist es.“