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Schon 2018 protestierten die Polen mit aufgehängten Babyschuhen gegen Missbrauch und Pädophilie in der Katholischen Kirche.
© imago/ZUMA Press

Ein Land und sein dunkles Geheimnis: Ein Youtube-Film wird zum Problem für Polens Regierung

Millionen Polen sehen einen Youtube-Film über Missbrauch in der Kirche. Das bringt auch die Dominanz der PiS-Regierung kurz vor der Europawahl ins Wanken.

Bleibt die Kirche im Dorf? Kann sie es jetzt noch bleiben? Polen ist in Aufruhr. Seit vergangenen Samstag steht der Dokumentarfilm „Tylko nie mów nikomu“ („Sag es bloß niemandem“) des Journalisten Tomasz Sekielski online. Darin geht es um den Kindesmissbrauch durch katholische Priester. In den wenigen Tagen wurde er bereits 15 Millionen Mal auf Youtube aufgerufen. Eine Resonanz, die die Erschütterung durch den Kinofilm „Klerus“ über die Sünden der Kirche noch einmal multipliziert. Den hatten bereits fünf Millionen Polen im vergangenen Winter geschaut, Platz drei im Ranking der meistgesehenen Filme in Polen seit der Wende 1989.

Die virale Verbreitung des gut zweistündigen Dokumentarfilms so kurz vor der Europawahl versetzt die Opposition in unverhoffte Zuversicht. Lässt sich die Dominanz der nationalkonservativen Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) nun brechen?

Die hat sich in ihrem Europawahlkampf eng an die Kirche gekettet. Vom Ausgang der Wahl erwarten alle politischen Lager Signalwirkung für die nationale Parlamentswahl im Herbst.

In wohl keinem anderen europäischen Land – allenfalls in Irland – hat die Kirche eine derart zentrale Bedeutung für die nationale Identität wie in Polen. Das Narrativ vom Aufbegehren gegen Fremdherrschaft und der Befreiung ist untrennbar mit ihr verwoben. Die Kirche war Träger von Sprache und Kultur in den 123 Jahren nach den polnischen Teilungen, in denen es von 1795 bis 1918 keinen polnischen Staat gab.

In Kirchen fanden Untergrundkämpfer und auch viele verfolgte Juden während der Nazi-Besatzung sowie Dissidenten im Kommunismus Zuflucht. Der polnische Papst Johannes Paul II. war die Galionsfigur der Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“, deren Erfolg den Sturz der roten Diktaturen in ganz Ostmitteleuropa 1989 herbeiführte.

Die dunkle Seite der Machtstellung

Doch nun tritt die dunkle Seite der Machtstellung des Klerus ans Licht und verändert das Kräfteverhältnis im Dreieck von Kirche, Staat und Nation. Kann ein Dokumentarfilm über den Missbrauch den Ausgang der Europawahl entscheiden und in der Folge den Regierungswechsel in Warschau bewirken? Oder ist die nationale Erzählung von Polen als entscheidender Bastion bei der Rettung des christlichen Abendlandes stärker? Eine Erzählung, die auf die Verteidigung Wiens vor den muslimischen Türken durch das Heer des polnischen Königs Jan Sobieski 1683 zielt – und die beinhaltet, dass man mit Blick auf das große Ganze nachsichtig mit Verfehlungen im Alltag sein solle?

Diese widersprüchlichen Aspekte, Kontexte und gesellschaftlichen Milieus, in denen sie anzutreffen sind, bringt der Film „Sag es bloß niemandem“ bedrückend und eindringlich nahe. Vieles teilt sich auch mit, wenn man nicht Polnisch spricht, sondern sich mit den deutschen oder englischen Untertiteln behilft.

Da ist, zum Beispiel, Anna Misiewicz, heute 39. In bewundernswerter Selbstbeherrschung erzählt sie, was ihr als Siebenjährige widerfahren ist. Sie nimmt einen mit in das Dorf; vor die Kirchentür, wo das Bild von ihr im weißen Kleidchen mit Blütenkranz auf dem Kopf neben dem Priester aufgenommen wurde; vor dessen Wohnhaus. Sie lässt die Zuschauer fühlen, wie die Erinnerungen sie quälen.

Wie selbstverständlich beorderte der Geistliche kleine Mädchen nach der Schule zu sich, um die Küche aufzuräumen, das Geschirr abzuwaschen, die Böden zu reinigen – alles im Erdgeschoss. Zu Anna sagte er eines Tages, sie sei etwas Besonderes, deshalb dürfe sie mit ihm nach oben kommen. Dort fasste er sie an die Brüste, zwang sie zu Zungenküssen, masturbierte mit Hilfe ihrer Kinderhände. Als er befriedigt war, verließ er das Zimmer, tat so, als sei nichts gewesen.

Er vertraute darauf, dass Anna „unser kleines Geheimnis“ mit niemandem teilen würde. Bis heute wird Anna beim Geruch warmer Milch schlecht, weil der Priester gerne warme Milch trank und danach roch.

Sie stellt sich vor, was sie ihm sagen möchte, falls sie ihn noch einmal trifft: Dass er ihr Leben zerstört hat. Und dass „er es nicht verdient, dass man ihn mit ,Priester’ anredet.“ Das ist die übliche Sprachform im Polnischen gegenüber Geistlichen. Man sagt weder „Sie“ noch: Ich möchte Ihnen etwas sagen. Die korrekte Anrede lautet: „Priester, ich will dem Priester etwas sagen.“

Eine Entschuldigung sei zu wenig, sagt er. Das wisse er.

Dann macht sich Anna auf den Weg in das Heim für Priester im Ruhestand in Kielce, mit einem Begleiter, den sie als ihren Ehemann vorstellt und der mit versteckter Kamera aufnimmt. Sie redet ihren Peiniger, so tief sitzt wohl die Gewohnheit, doch wieder mit „Priester“ an. Der zeigt Reue, streitet nichts ab. Er wisse, dass er Schreckliches getan habe. Der Teufel habe ihn in Versuchung geführt.

Er lese Messen zum Wohl der Opfer seiner Taten. Und er fürchte sich vor der göttlichen Gerechtigkeit. Anna stellt ihn zur Rede, mit fester Stimme: „Ist ihnen klar, wer die Kosten zu tragen hatte?“ Eine Entschuldigung, sagt er, sei viel zu wenig. Das wisse er. Aber würde sie die Entschuldigung, bitte, annehmen? Anna nimmt sie an. Dann muss sie raus aus dem engen Zimmer. Sie hält es nicht mehr aus – und verabschiedet sich doch: „Mit Gott!“

Die Missetaten einiger

Schon vor der Veröffentlichung des Dokumentarfilms hatte der Vorsitzende der regierenden PiS, Jaroslaw Kaczynski, im Wahlkampf immer wieder gesagt: „Polen und die Kirche sind eins. Polen und die PiS sind eins.“ Auf den aktuellen Aufruhr reagiert er mit einer Doppelbotschaft: Missbrauch an Kindern „ist ein Verbrechen“, muss „eisenhart“ bestraft werden; die PiS sei als erste Partei dafür eingetreten.

Aber die „Missetaten einiger, nicht sehr zahlreicher Priester dürfen keine Grundlage sein, um die Kirche anzugreifen.“ Er bekräftigt das Bündnis mit der Kirche. „Wer die Hand gegen die Kirche erhebt, der erhebt die Hand gegen Polen.“

Wer ist näher an der Seele der Polen: die liberale Opposition, die plötzlich auf einen Wahlsieg hofft, der lange so fern schien? Das nationalpopulistische Lager, das an der Identitätsgleichung „Pole gleich Katholik gleich Patriot“ festhält? Die Linke, die nun die strikte Trennung von Kirche und Staat fordert?

Wer hat den Film gesehen?

Die entscheidende Frage ist tatsächlich, ob die Kirche im Dorf bleibt. Wer von den 38,4 Millionen Polen hat den Film im Internet gesehen? Und wie viele von ihnen machen ihre Wahlentscheidung von der Nähe zur Kirche und die Nähe zur Kirche vom Kindesmissbrauch abhängig? Das ist eine Alters-, aber auch eine Wohnortfrage.

Je jünger und je (groß)städtischer eine Polin oder ein Pole, desto höher die Internetaffinität. Doch diese Gruppe ist ja ohnehin schon auf Distanz zur Kirche und geht nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst.

Anders die Bevölkerung in Kleinstädten und Dörfern. Millionen Ältere auf dem Land haben keinen Zugang zum Internet oder haben nicht gelernt es zu nutzen. Sie sind verlässliche Kirchgänger. Andrzej Kobylinski, Priester und Philosoph und sozialwissenschaftlicher Vordenker, glaubt, dass bis zu zwei Drittel der Polen im Zweifel zur Kirche stehen.

Nicht, weil der Kindesmissbrauch durch Priester für sie nachrangig ist. Sondern weil sie Angst vor den technischen und politischen Revolutionen aus dem Westen haben, die ihr Selbstbild angreifen. „Es gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit, wenn konservative Politiker sagen, wir werden das nicht zulassen, wir werden traditionelle Werte verteidigen.“

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