Österreichs Lockerungsversuch: Warum Kurz schon jetzt über eine Exit-Strategie spricht
Als erster in Europa will Bundeskanzler Kurz einige Anti-Corona-Maßnahmen lockern. Kann das ein Vorbild für Deutschland sein?
Sebastian Kurz greift zum biblischen Wort. Wenn alle noch eine Woche streng alle Regeln durchhalten, verspricht der Bundeskanzler, könne Österreich „die Wiederauferstehung nach Ostern“ in Angriff nehmen.
Kurz steht in der Wiener Hofburg hinter einer Plexiglasscheibe, ebenso wie jeder der anderen Minister seiner schwarz-grünen Regierung.
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Als erste in Europa stellen sie am Montag eine Exitstrategie aus der Corona-Sperre vor. Sie sieht bald Lockerungen vor. Aber der Plan macht auch deutlich: Viele Einschränkungen werden sehr lange bleiben. Für die Strategie, betont Kurz, gebe es international kaum Vorbilder.
Dafür könnte das Wiener Vorgehen zur Blaupause für andere werden – und die Alpenrepublik zum Labor, in dem die Nachbarn studieren können, was gut funktioniert und was nicht.
Warum redet Österreich jetzt schon über eine Exit-Strategie?
„Wir haben in Österreich schneller und restriktiver reagiert als in anderen Ländern“, sagt Kurz. Deshalb könne man schneller wieder aus der Krise raus. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Über die andere Hälfte spricht der Regierungschef lieber nicht.
Sein Land hat nämlich einen wenig ruhmreichen Vorsprung im Zeitverlauf der Pandemie. Das Virus breitete sich in Tiroler Skigebieten ungebremst aus, als in Deutschland die Münchner Firma Webasto noch der einzige Corona-Herd war.
Erst mit den Heimkehrern kam Covid-19 massenhaft über die Grenze bis nach Bayern, Hamburg oder Heinsberg bei Aachen. Folgerichtig sind die Erfolgszahlen bei der Eindämmung der Pandemie, die Gesundheitsminister Rudolf Anschober vorstellte, mit den Daten aus Heinsberg fast identisch. Hier wie dort liegt die Verdopplungszeit für die Zahl der neuen Infektionen schon bei 16 Tagen, während sie für ganz Deutschland erst bei 12 Tagen liegt. Österreich und Heinsberg sind uns schlicht zwei Wochen voraus.
Wie sieht der Stufenplan Österreichs aus?
Er gibt eine Vorahnung, dass noch lange nichts so sein wird, wie es mal war. Kurz spricht davon, schrittweise zu einer „neuen Normalität“ zu kommen. Das bedeutet Lockerungen mit scharfen Auflagen – und einer Maskenpflicht nicht nur in Supermärkten, sondern auch im öffentlichen Nahverkehr.
Ab 14. April, dem Dienstag nach Ostern, dürfen kleine Geschäfte bis 400 Quadratmeter, Bau- und Gartenmärkte wieder öffnen. Überall muss es neben Schutzmasken auch ausreichend Desinfektionsmittel geben, zudem gibt es Abstandsregeln und eine Begrenzung der zeitgleich einkaufenden Menschen.
Aber: Die Ausgangsbeschränkungen werden noch nicht aufgehoben, sondern bis Ende April verlängert. Nur wer zur Arbeit, zum Einkaufen oder zur Betreuung hilfsbedürftiger Menschen muss oder Sport treiben will, darf das Haus verlassen. Ab 1. Mai sollen dann alle anderen Geschäfte, Friseure und Einkaufszentren öffnen, ebenfalls mit strengen Auflagen.
Was ist es mit Restaurants, Kitas, Schulen und Veranstaltungen?
Frühestens Mitte Mai sollen Gastronomiebetriebe und Hotels stufenweise wieder öffnen können, die Entscheidung fällt im Lichte der Infektionszahlen Ende April. Auch die Schulen und Universitäten sollen bis Mitte Mai zunächst geschlossen bleiben, die Unterrichts- und Lehrangebote sollen digital erfolgen. Für Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen wie Ärzten oder Pflegern gibt es weiter Betreuungsangebote.
Auch die Maturaprüfungen (das Abitur) sollen wie geplant stattfinden. Aber sogar bis Ende Juni soll es keine Veranstaltungen in Österreich geben, also keine Sportereignisse, Messen, Konzerte und Theateraufführungen. Das bedeutet, es werden weitere erhebliche Finanzhilfen notwendig sein, um hier Ausgleichszahlungen zu leisten. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) betont aber: so hätten zumindest alle bis dahin erstmal Planungssicherheit.
Was bedeutet das für Urlaubsreisen?
Dem Tourismusland Österreich drohen bei einer seiner wichtigsten Einnahmequellen hohe Milliardeneinbußen. Die Reisefreiheit werde weltweit so lange eingeschränkt sein, bis es einen Impfstoff gibt, betont Kurz. Die Sommer-Reisesaison wird, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt stattfinden.
Kein Land wolle sich das Virus nach den getätigten Einschränkungen wieder mutwillig einschleppen, erläutert Kurz. „Wenn wir die Situation gelöst haben, werden wir als Österreicher früher wieder woanders willkommen sein“, glaubt er und verweist auf andere Länder, die sich auch abschotten.
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Explizit erwähnt er die 14-tägige Quarantäne bei Einreisen nach Deutschland. Trotz allem gibt Kanzler Kurz das Ziel aus, Österreich wolle schneller als andere das wirtschaftliche Comeback schaffen. Das grundlegende Problem: Das Einschleppen des Virus vor allem über Flugreisende wird noch sehr lange den internationalen Reiseverkehr massiv einschränken.
Das Misstrauen und die Angst vor neuen Infektionswellen ist groß, ebenso der entstehende Schaden: eine Pleitewelle bei Fluglinien, Tourismuskonzernen, Hotels und Restaurants scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Was sagt die deutsche Bundesregierung zu dem Plan?
Nichts. Regierungssprecher Steffen Seibert betont: „Ich bin der Sprecher der Bundesregierung.“ Und nicht der Sprecher der österreichischen Regierung. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mache sich Tag und Nacht Gedanken, wie es ab dem 20. April weitergehen soll.
Aber der Fokus der öffentlichen Stellungnahmen liegt weiter auf den Appellen, zu Hause zu bleiben, gerade auch zu Ostern nicht die Verwandten zu besuchen. Erst einmal sollen die Infektionszahlen so weit sinken, dass die Verdopplungszahl bei mindestens 14 Tagen liegt und jeder Infizierter im Schnitt weniger als eine weitere Person infiziert, betont eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums.
Der deutsche Föderalismus wird den Ausstieg nicht einfacher machen. Experten verweisen auf regional sehr unterschiedliche Fallzahlen und Infektionsrisiken. Bisher wird davon ausgegangen, dass kleine Geschäfte, Schulen und Kitas als erste wieder öffnen können.
Die Baumärkte sind fast überall ohnehin offengeblieben, in Berlin auch Buch- und Fahrradläden. Kommt aber eine ähnliche Ausstiegsregelung wie in Österreich, ist nur eines klar: Die bisher beschlossenen Maßnahmen mit 156 Milliarden Euro Neuverschuldung werden nicht reichen, da diese bisher in der Regel auf einen Monat Stillstand ausgelegt sind, aber nicht auf fast vier Monate wie er in Österreich für alle Sport- und Kulturveranstaltungen gilt. Eine Fußball-Bundesliga mit Zuschauern wird in dieser Saison mit jedem Tag unwahrscheinlicher.
Wie sicher ist Kurz, dass sein Plan funktioniert?
Gar nicht. Mehrfach fällt in der Pressekonferenz das Wort „Notbremse“. Wenn die Zahl der Infektionen wieder steigen sollte, müssten die Zügel angezogen werden.
Kurz nennt das Beispiel Singapur: Der Stadtstaat hat rigide durchgegriffen, dann gelockert – und erlebt jetzt eine zweite heftige Welle. Durch die Kontaktsperre blieben viele verschont, nur wenige waren dadurch aber auch bereits immun. Darum findet das Virus erneut viele Opfer.
Auch deshalb stehen im Wiener Regierungsplan hinter vielen Zeitpunkten Fragezeichen. Zumal der alles entscheidende Faktor nicht in der Hand der Politik liegt: Die Bürger und Unternehmen müssen durchhalten. Wenn sie wieder damit anfingen, sich zu Familienfeiern zu treffen, könne und werde das die Polizei nicht kontrollieren, sagt Kurz. Aber er glaube an die Verantwortung jedes Einzelnen.
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