Der Schatten-Pandemieminister: Warum Karl Lauterbach in der Corona-Krise so gefragt ist
Vor Corona stand der SPD-Gesundheitspolitiker im Abseits. Doch in der Krise gewinnt der Epidemiologe an Einfluss - und nutzt ihn auch.
Karl Lauterbach schüttelt den Kopf, hebt die Hand, kneift die Augen zusammen. Er sitzt mal wieder in einem Talkshowstudio, Ende April bei Anne Will. Neben ihm verteidigt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) seinen Lockerungskurs.
Deutschland habe die Pandemie im Griff, es stünden doch viele Intensivbetten leer, und überhaupt würden diese Virologen „alle paar Tage“ ihren Kurs ändern. Mehrfach hat Lauterbach versucht, Laschet zu unterbrechen, vergeblich. „Aber später will ich das korrigieren“, sagt er.
Wenn in diesen Tagen über Corona diskutiert wird, ist Karl Lauterbach nicht weit. Dabei sah es vor nicht allzu langer Zeit nicht gut für ihn aus. Nach der Pleite bei der Bewerbung um den SPD-Vorsitz im vergangenen Jahr hatte seine politische Karriere einen Knick erlitten, sein Amt als Fraktionsvize ist er ebenfalls los. Doch in der Coronakrise ist der SPD-Politiker, Mediziner und Gesundheitsökonom wieder gefragt. Er ist so etwas wie der Chef-Kritiker zu kühner Lockerungen geworden.
Mit seinen Einschätzungen und Mahnungen steht er im Rampenlicht, wohl auch dank seiner zwei Doktortitel, seiner Professur für Epidemiologie in Köln, die derzeit ruht, und seiner Gastprofessur in Harvard. Doch anfangs unterschätzte auch er die Gefahr, die von dem Virus ausgeht.
Ende Januar äußerte er sich in einem Interview, es werde in Deutschland wohl „bei Einzelfällen bleiben“, mit massenhaft Infektionen sei nicht zu rechnen. „Die Gefahr für die Mehrheit der Bevölkerung ist zum Glück sehr überschaubar.“ Mitte März räumte Lauterbach dann in einer Talkshow ein, die Situation anfangs nicht immer richtig eingeschätzt zu haben. „Mir bricht da kein Zacken aus der Krone, ich habe das schnelle Anfluten der Fälle nicht gesehen“, sagte er.
Er ist einer der vehementesten Verteidiger strikter Maßnahmen
Mittlerweile ist Lauterbach einer der vehementesten Verteidiger strikter Maßnahmen, wünscht sich, dass Deutschland das Virus in Schach hält, das Südkorea Europas wird. Immer wieder und überall – in Zeitungen, Talkshows, auf Twitter und Youtube – erklärt der Epidemiologe, was passiert und was seiner Ansicht nach politisch zu tun sei. Mit runder Brille, Anzug und der ausladenden Gestik haben seine Auftritte immer etwas von einem Vortrag an einer Hörsaal-Tafel.
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An Selbstbewusstsein mangelt es Lauterbach nicht. In diesem Frühjahr wartet er am Rande einer Bundestagssitzung, bis Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein Statement in die Kameras abgegeben hat, um ihn dann gezielt abzufangen. Altmaier seufzt, eigentlich hat er keine Zeit. Beide setzen sich mit gebührendem Abstand auf zwei Stühle und Lauterbach erklärt ihm eindringlich die Gefahren der Pandemielage.
Der Schatten-Pandemieminister kalkuliert seine Wirkung genau
Als Peer Steinbrück 2013 Bundeskanzler werden wollte, war Lauterbach Teil seines Schattenkabinetts. Gesundheitsminister sollte er werden. Jetzt, in der Coronakrise, wirkt es fast, als sei er eine Art Schatten-Pandemieminister.
Er merke, dass das, was er jetzt sage, sehr genau verfolgt werde, erzählt Lauterbach am Telefon. Seine Äußerungen hätten manchmal Einfluss auf den Lauf der Politik. „Das haben mir zumindest Kollegen aus der Regierung versichert“, sagt er. Aussagen wie diese lassen erahnen, wie genau er seine Wirkung und die seiner Worte kalkuliert.
Von Düren über Harvard in den Bundestag
Lauterbach wuchs in der Nähe von Köln auf, in Düren. Von hier aus zog es den Sohn eines Vorarbeiters an die Universität und bis in die USA, wo er mehrere Jahre lebte. Seit 2001 ist er in der SPD, davor beriet er – noch als Wissenschaftler – die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. 2005 wurde er per Direktmandat in den Bundestag gewählt.
In der Corokrise ist Lauterbach halb Politiker, halb Wissenschaftler
Er selbst sagt über sich, dass er derzeit zur Hälfte als Politiker, zur Hälfte als Wissenschaftler spreche. „Meine Äußerungen, zum Beispiel zu Schulöffnungen oder zur Corona-App, sind zwar wissenschaftlich begründet, aber sie sind politisch.“ Parteipolitik spiele derzeit aber eine untergeordnete Rolle. „Die Frage nach einer Maskenpflicht ist ja schließlich keine typisch parteipolitische Frage.“
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Seine Tage verbringt der Gesundheitsexperte derzeit meist im Kölner Homeoffice. „Noch mehr als sonst“ telefoniere er mit Experten und lese Studien. „Um nichts zu verpassen“ und „um auf dem neuesten Stand der Epidemie zu bleiben“.
Sobald er es ist, spricht er auch darüber: „Wenn ich mich auskenne, äußere ich mich gerne auch medial. Es nützt ja nichts, wenn ich zwar etwas gründlich aufgearbeitet habe, es aber nicht in die Debatte einfließt“, sagt er. Er äußere sich allerdings nur, wenn er etwas Neues zu sagen habe.
Lauterbach mahnt, was das Zeug hält
Das macht er dann aber auch mit viel Nachdruck. Obwohl mit Leverkusen und dem 1. FC Köln zwei Bundesliga-Clubs in seinem Wahlkreis beheimatet sind, wehrte er sich strikt gegen eine Fortsetzung der Bundesliga-Saison mit Geisterspielen. Nach positiven Corona-Fällen beim 1.FC Köln und dem Verzicht auf eine Quarantäne für die ganze Mannschaft betonte er: „Wer mit Covid-19 trainiert, riskiert Schäden an Lunge, Herz und Nieren.“ Fußball solle Vorbild sein, nicht ein modernes „Brot und Spiele“.
Erst am vergangenen Wochenende mahnte Lauterbach auf Twitter, es sei zu erwarten, dass das exponenzielle Wachstum zurückkehre. „Die Lockerungen sind zu schlecht vorbereitet worden“, kritisiert er. Mit seinen klaren, manchmal plakativen Äußerungen provoziert er immer wieder.
Der Mann mit der Fliege ist beliebt bei jungem Publikum
Doch der 57-jährige Professor hat auch ein eigenes Fanpublikum. Und das auch bei jungen Menschen, zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man durch die Kommentarspalten der sozialen Netzwerke scrollt. Das muss natürlich nicht heißen, dass die SPD von Lauterbachs neuer Popularität profitiert. Aber: Dass er die Sprache der neuen Medien spricht und auch für Scherze zu haben ist, schadet ihr sicher auch nicht.
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So führte er – vor der Corona-Pandemie – schon mal Liegestütze in Benjamin Stuckrad-Barres Fernsehsendung vor und mixte Anti-Kater-Drinks in der „heute-show“ des ZDF. „Einen gewissen Resthumor habe ich hoffentlich noch nicht verloren“, sagt Lauterbach. Mittlerweile sei er weniger selbstironisch als früher, sagt er dann noch.
Letzte Woche veröffentlichte Comedian Hazel Brugger eine Youtube-Sendung, in der sie sich von Lauterbach dessen Balkon zeigen ließ. „Wir arbeiten sehr hart“, sagt er dort über den Tag, den er mit seiner Tochter verbrachte. Und schwenkt in just diesem Moment seine Handykamera auf eine Kiste leerer Bierflaschen.
Die Niederlage im Rennen um den Parteivorsitz habe er „verwunden, obwohl mir das sehr nahegegangen ist“, sagt Lauterbach. Ihm und seiner Teamkollegin Nina Scheer sei es einfach nicht gelungen, ihre Vision – „eine rot-grüne Partei aus der SPD zu machen“ – überzeugend rüberzubringen.
Über sein weiteres Fortkommen in der SPD möchte er in der Krise nicht nachdenken. Aber seine Idee einer rot-grünen SPD wolle er weiterverfolgen. „Die SPD kann für junge Leute nur wieder attraktiv werden, wenn sie sich viel stärker ökologisch ausrichtet.“