Umstrittene Taxonomie-Verordnung: Warum Frankreichs Atomkraft das Nachhaltigkeitssiegel braucht
Auf die Entscheidung der EU-Kommission hat vor allem Frankreich hingewirkt. Der französische Sektor hat Investitionen bitter nötig.
Wie wohlwollend Emmanuel Macron zur Atomkraft steht, hatte er lange vor dem Streit um die EU-Taxonomie kundgetan. Als Frankreichs Staatspräsident im Dezember 2020 in Le Creusot anlässlich eines Besuchs beim französischen Kerntechnikkonzern Framatome vor Abgeordnete, Militärs und Atomfunktionäre trat, kam es zu einem regelrechten Treueschwur. „Ohne zivile Atomkraft keine militärische Atomkraft und ohne militärische Atomkraft keine zivile“, sagte Macron.
Die energetische und die ökologische Zukunft hingen an ihr, die wirtschaftliche und die industrielle Zukunft und selbst die strategische Zukunft hingen an ihr, führte Macron auch. „Die Kernkraft muss eine Säule des französischen Energiemixes bleiben.“
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Bei Worten ist es nicht geblieben. Monatelang stritten die EU-Staaten um ein Nachhaltigkeitssiegel für die Atomkraft. Ohne Atomstrom könnte die EU nicht wie geplant bis 2050 Klimaneutralität erreichen, hatte Macron gesagt und hinter den Kulissen schon vor Monaten eine Mehrheit der EU-Staaten davon überzeugt, dass die Energieform Teil der sogenannten Taxonomie sein sollte.
Umweltministerin Steffi Lemke und Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) hatten den Schritt unlängst abgelehnt. „Weder Atomkraft noch Erdgas gehören in eine Taxonomie, die Richtschnur für langfristig nachhaltige Investitionen sein sollte“, sagte Grünen-Bundestagsabgeordneter Stefan Wenzel dem Tagesspiegel. Nun hat die EU-Kommission das Nachhaltigkeitssiegel für Atomenergie und Gas beschlossen.
Der Beschluss durch die EU-Kommission kommt einer Empfehlung an Finanzinvestoren gleich, in die vermeintlich nachhaltigen Energiebereiche zu investieren. Und Frankreichs Plan könnte funktionieren. Jean-Jacques Barbéris, Vorstand von Europas größter Fondsgesellschaft Amundi, sagte erst vor wenigen Tagen, dass man den Vorschlag der EU-Kommission unterstütze. „Ja, Atomkraft ist nachhaltig“, sagte Barbéris der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Ein Blick nach Frankreich zeigt allerdings: Diese Investitionen scheint das System Atom, das immerhin 70 Prozent der Stromgewinnung im Land ausmacht, auch dringend nötig zu haben.
Die Ausfallrate der AKW ist hoch
Als die Atomaufsicht, die Autorité de Sureté Nucléaire, im Februar 2021 den Weg für den Weiterbetrieb der ältesten Atomkraftwerke des Landes frei machte, ihnen Laufzeitgenehmigungen von 50 anstatt wie zuvor von 40 Jahren ermöglichte, hatte die französische Politik wohl vor allem das Alter ihrer AKW-Flotte im Blick. 56 Kernreaktoren werden in Frankreich betrieben. Durchschnittsalter: 36 Jahre.
Auf die Atomkraftwerke der sogenannten 900-Megawatt-Baureihe, viele seit den 1980er-Jahren in Betrieb, könnte man derzeit wohl noch nicht verzichten. Sorge müssen allerdings auch die Ausfallzeiten bereiten. Von den möglichen 61 Gigawatt Leistung waren Ende Januar regelmäßig nur 49 Gigawatt am Netz. Erst im Dezember hatte Electricité de France (EDF), Betreiber der französischen AKW, erklärt, eine Reihe der leistungsstärksten Reaktoren wegen technischer Fehler abzuschalten.
Glaubt man Kritikern, ist der AKW-Park bereits in äußerst schlechtem Zustand. „Das Riesenproblem ist, dass die Wartungszeiten nicht mehr planbar sind“, sagt Mycle Schneider, Herausgeber des jährlichen World Nuclear Industry Status Report. Längst dauern diese länger als geplant. „Die Ausfallzeiten heruntergefahrener AKW waren bereits 2019 durchschnittlich 44 Prozent höher als bei Abschaltung geplant“, sagt Schneider. Es gebe Fälle, wo das Wiederanfahren rund 40 Mal verschoben werde.
Und im Jahr 2020 seien die Ausfallzeiten sogar gestiegen. 115 Tage pro Jahr fallen Reaktoren im Schnitt aus. Der in Bau befindliche EPR-Reaktor Flamanville, Frankreichs Vorzeigeprojekt, ist dagegen bereits zehn Jahre in Verzug und soll nun erst 2023 ans Netz gehen. Von dem Design eines EPR der zweiten Generation ist Frankreich noch Jahre entfernt.
Frankreich verspricht sich Unabhängigkeit
Wer derzeit mit Sorge auf die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas blickt, könnte Frankreich um seine vermeintliche Unabhängigkeit durchaus beneiden. Gaskraftwerke bieten zwar den Vorteil, bei Netzengpässen schnell zugeschaltet werden zu können – doch das Gas muss auch geliefert werden. Dazu belaufen sich die Energie-Importe in Frankreich auf rund 47 Prozent am Gesamtbedarf, in Deutschland dagegen sind es 70 Prozent. Doch lässt sich auf die Atomflotte im Nachbarland ebenfalls mit Sorge blicken.
Auf zwei Reaktoren, die laufen, kommt derzeit ein Ausfall – ausgerechnet in der Winterzeit. Früher im Januar, als die jeweils zwei 1450MW-Reaktoren in Chooz und Civaux mit Rissen an Schweißnähten längst vom Netz waren, rief EDF die Bürger dazu auf, Strom zu sparen. Derzeit registriert der französische Netzbetreiber Réseau de Transport d'Electricité an vielen Tagen eher einen Stromimport aus Deutschland als einen lukrativen Export ins Nachbarland.
Noch gelingt es in Frankreich Tag für Tag, 70 Prozent des Strombedarfs mit der Kernenergie zu decken. Der Gasanteil an der Gesamtproduktion beträgt nur rund 10 Prozent, dazu aus anderer Herkunft als in Deutschland. Das in Frankreich genutzte Gas kommt vor allem aus Algerien, verlässlich geliefert. Damit der Atom-Anteil hoch bleibt, soll nun das Nachhaltigkeitssiegel für die Atomkraft Investitionen künftig erleichtern.
„In den Entwurf der Taxonomie wurden Investitionen in Laufzeitverlängerungen aufgenommen – eine Regel wie gemacht für die alternde französische AKW-Flotte“, sagt Schneider. Die Investitionen werden mehr als gebraucht. EDF ist hochverschuldet und ging aus dem Jahr 2020 mit einer Gesamtverschuldung von 41 Milliarden. Dass private Investoren in neue AKW investieren, halten Experten eher für unwahrscheinlich.
Die Grünen im Bundestag wollen Genehmigungsverfahren begleiten
Nun steht das erste Genehmigungsverfahren für eine Laufzeitverlängerung einer jener Reaktoren an, für welche die französische Atomaufsicht im vergangenen Jahr den Weg frei machte. Für die Laufzeitverlängerung eines Reaktors des Kraftwerks Tricastin, in Betrieb seit 1980, läuft nun eine Öffentlichkeitsbeteiligung. Die Grünen im Bundestag beobachten dies mit Sorge. „Bei der Laufzeitverlängerung von über 30 Atomreaktoren der ältesten Generation sollten die Nachbarstaaten eingebunden werden“, sagte Grünen-Abgeordneter Wenzel.
Zwar entscheide jedes Land souverän über den eigenen Energiemix, im Falle eines Unfalls sei aber gerade die Atomenergie keine nationale Angelegenheit mehr. Derweil machte sich der Bernard Doroszczuk, Präsident der französischen Atomaufsicht, in der Zeitung „Le Monde“ zuletzt dafür stark, sogar längere Laufzeiten als 50 Jahre zu ermöglichen.
Die Strompreise von Verbrauchern sind derweil auch in Frankreich zum heiß diskutierten Thema geworden. Macrons Regierung hatte EDF vor kurzem angewiesen, 20 Prozent mehr Atomstrom zu produzieren und unter Marktwert zu verkaufen. Der Aktienkurs des Unternehmens fielen prompt um 25 Prozent. Die Aktie befindet sich derzeit bei acht Euro auf dem tiefsten Stand der letzten zwei Jahre. In Frankreich wird im Mai eben gewählt. Und die Atomkraft ist eine nationale Angelegenheit.