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Private Investoren gingen an Akw-Neubauprojekte nicht ran. „Wer das macht, tut es am Ende mit Staatsgeld“, sagt ein Energie-Ökonom. 
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Atomkraft als Klimaretter?: „Jedes abgeschaltete Atomkraftwerk ist eine Investitionsgarantie“

Die Einbeziehung von Atomkraft in die EU-Taxonomie naht. Analysten und Ökonomen schreiben der Kernenergie längst keine Rolle mehr zu. Die Widerstände wachsen.

Ursula von der Leyen wird die Zeit auf ihrer Seite haben. Nach der Weltklimakonferenz in Glasgow will die Kommissionspräsidentin öffentlich machen, ob Investitionen in Erdgas-Projekte und die Atomkraft in der EU künftig als klimafreundlich gelten. Ob sie mit ihrem Vorschlag zur sogenannten Taxonomie auf Widerstand der Bundesregierung treffen könnte, ist in Berlin kaum ersichtlich. Die Koalitionsverhandlungen verschaffen von der Leyen wohl mehr Ruhe, als sie bei diesem Thema sonst hätte, und ein delegierter Rechtsakt wird die Taxonomie besiegeln, lange bevor die Verhandlungen der Ampelparteien vorüber sind. 

Aus der Bundestagsfraktion der Grünen ist die Befürchtung zu hören, dass die Entscheidung die Glaubwürdigkeit der Taxonomie – immerhin zu grünen Investitionen – unter einer Einbeziehung von Atomkraft und Erdgas leiden würde. Der Abgeordnete Stefan Wenzel kritisierte die nahende Entscheidung. „Viele Projekte erneuerbarer Energien, die eigentlich Geld bräuchten, werden so keines bekommen“, sagte er. 

Analysten und Energie-Ökonomen skeptisch 

Es gibt erheblich mehr Skepsis und Kritik an der Richtung, die der Atomsektor nimmt und der Wirkung, die ihm derzeit zugesprochen wird. Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, hat auch die Debatte um mögliche Laufzeitverlängerungen für deutsche Atomkraftwerke im Blick. Zuletzt hatte etwa Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze (CDU) solche gefordert.

„Der Ausstiegsbeschluß beruht auf einer noch immer richtigen Feststellung: Atomkraft ist in letzter Konsequenz nicht hundert Prozent sicher“, sagte König zu Tagesspiegel Background. „Ohne enorme Subventionen und Investitionen, so wie sie jetzt versucht wird, mittels der EU-Taxonomie zu erreichen, sind Atomkraftwerke nicht wirtschaftlich und stellen zudem eine Technik dar, die anfällig für Proliferation und terroristische Bedrohungen ist.“ 

Skeptisch zeigen sich auch Analysten und Energie-Ökonomen angesichts einer nahenden Aufnahme der Kernkraft in die Taxonomie. „Es wäre ein unschönes Signal, aber welcher private Investor geht da am Ende noch rein?“, fragte Felix Christian Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut. „Da geht es nicht um Energiewirtschaft, sondern um Weltsichten. Denn Kernkraft ist längst die teuerste Option“, sagte Matthes zu Tagesspiegel Background. „Die Projekte sind kostspielig, jahrzehntelange Unterfangen, die auch aus Sicherheitsgründen immer teurer werden.“ Private Investoren gingen an Akw-Neubauprojekte nicht ran. „Wer das macht, tut es am Ende mit Staatsgeld“, sagte Matthes. 

Es war auch Macron, der durch intensive Verhandlungen hinter den Kulissen eine Mehrheit der EU-Staaten überzeugte, dass die Atomkraft Teil der Taxonomie sein sollte.
Es war auch Macron, der durch intensive Verhandlungen hinter den Kulissen eine Mehrheit der EU-Staaten überzeugte, dass die Atomkraft Teil der Taxonomie sein sollte.
© Van der Hasselt/ AFP

Ein anderer Faktor ist die Zeit. Während die Europäische Union versucht, sich bis 2050 klimaneutral aufzustellen, werden immer mehr Rufe nach der Atomkraft laut. Ohne Atomstrom, so argumentiert Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, könne die EU nicht wie geplant bis 2050 klimaneutral werden. Schon zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes hatte er die Atomenergie für sich wiederentdeckt und zuletzt Investitionen von einer Milliarde Euro angekündigt. Es war auch Macron, der durch intensive Verhandlungen hinter den Kulissen eine Mehrheit der EU-Staaten überzeugte, dass die Atomkraft Teil der Taxonomie sein sollte. In Osteuropa, in Polen, Slowenien oder Ungarn, wird ohnehin auf den Neubau von Meilern gesetzt.

„Wir beobachten einen langsam aussterbenden Sektor“

„Alle in Europa geplanten Kraftwerke befinden sich massiv hinter dem Zeitplan“, sagte Matthes mit Blick auf die Akw der dritten Generation. Beispiele gibt es genug. Etwa Hinkley Point C, das einzige in Großbritannien in Bau befindliche Kernkraftwerk. Ursprünglich sollte es rund 21 Milliarden Euro kosten, mittlerweile werden es wohl 27 Milliarden und die Fertigstellung verzögert sich bis mindestens 2026. Matthes nennt auch Flamanville als Beispiel. Die Kosten des französischen Kraftwerks haben sich von 3,3 Milliarden Euro auf über 19 Milliarden fast versechsfacht. Zudem ist das Projekt zehn Jahre im Verzug. „Ein Desaster der Sonderklasse“, sagte Matthes.

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„Die Klimakrise müssen wir jetzt in den Griff bekommen, nicht in 15 Jahren. So macht man das Klima kaputt“, sagte Mycle Schneider über die langwierigen Projekte. Schneider ist Herausgeber des jährlichen World Nuclear Industry Status Reports und zeichnet ein recht negatives Bild. „Wir beobachten eigentlich einen langsam aussterbenden Sektor. Wird es in die EU-Taxonomie aufgenommen, lebt er vielleicht noch ein bisschen länger“, sagte der Analyst. „Welches Vertrauen hat man in ein Finanzmodell, das man komplett auf den Kopf stellt?“   

Frankreich wird noch Jahrzehnte auf die Kernkraft setzen.
Frankreich wird noch Jahrzehnte auf die Kernkraft setzen.
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Als die Klimakrise in den vergangenen Jahren immer präsenter wurde, sei da ein breiter Graben entstanden, sagt Schneider. Zwischen der Realität und eben einem Kernenergiesektor, der durch mediale Aufmerksamkeit und die Präsenz von prominenten Promotern wie Bill Gates, nach oben gepusht werde. Vor allem mit Konzeptstudien von Klein-Reaktoren, für die es nach 15 Jahren Forschung in der westlichen Welt kaum ein genehmigtes Design, keine Standorte und keine Finanzierung gebe. „Ein grotesk verzerrtes Bild“, sagte er. „Wir diskutieren völlig faktenfrei.“ 

Matthes „tiefenentspannt“ bei der Einstufung von Erdgas

Kurz vor dem Start der Klimakonferenz in Glasgow sagte Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Behörde (IEA): „Atomenergie ist eine grüne Energie.“ Sie erzeuge fast keine CO2-Emissionen. Schneider sagte hingegen: „Es werden Kapazitäten von der notwendigen Wende abgezogen und dem Umbau hin zu einem klimaneutralen System.“ Die Dringlichkeit wirklicher klimaeffizienter Investitionen liege auf der Hand. „Jedes abgeschaltete Atomkraftwerk ist eine Investitionsgarantie – weil 1300 Megawatt im Markt frei werden.“  

Ähnlich äußert sich Energie-Ökonom Matthes zum notwendigen Umbau: „Wir haben richtig große und wichtige Finanzierungen in einem kapitalintensiven System vor uns. Es wird Engpässe geben. Investitionen in die Atomkraft bremsen diesen Umbau“, sagte er. „Tiefenentspannt“ sei er dagegen bei der Einstufung von Erdgas in die Taxonomie. „Wir werden bis 2030 ohnehin eine regelbare Kapazität von rund 60 Gigawatt brauchen, um Ausfälle erneuerbarer Energien in Dunkelflauten zu kompensieren“, sagte Matthes, führte aber fort: „Wenn Deutschland bis 2045 klimaneutral sein will, ist da kein Platz für Erdgas. Deutschland wird die Kraftwerke kontinuierlich auf Wasserstoff umrüsten müssen.“

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