Zwischen den Jahren: Einsamkeit kann belasten - oder ein Genuss sein
Manche verzichten freiwillig, vielen fehlt die Gesellschaft von Menschen. Wie gefährlich ist Einsamkeit zwischen den Jahren?
Nicht nur an den weihnachtlichen Feiertagen, sondern gerade auch zwischen den Jahren fällt vielen auf, wie einsam sie sind. Denn es sind in der Regel ungewöhnlich ruhige Tage, ohne die gewohnte Struktur durch Arbeit und andere Verpflichtungen beziehungsweise Ablenkungen – und die Städte sind deutlich leerer als normalerweise.
Warum gilt Geselligkeit als lebenswichtig?
Ein Geselle, im wörtlichen, ursprünglichen Sinn, war einer, der sich dazugesellen darf. Gesellen haben ein Handwerk erlernt, sie fertigen Schuhe, Tische oder Uhren, ihr Können zeigt Nutzen für andere, und ihr Gesellenbrief weist sie aus als Mitglied der Gesellenschaft. Aus dem Wort leitet sich, soweit man weiß, der Begriff „Gesellschaft“ ab, worunter ein soziales Netzwerk handelnder Menschen verstanden wird.
Zur Gesellschaft zu gehören, die Akzeptanz und den Schutz der Gruppe zu genießen, ist existenzielle Bedingung des Menschseins vom Tag der Geburt an. Inklusion verleiht Sicherheit und verringert Ängste. Exklusion und Isolation schüren Unsicherheit und Angst. Wer einsam ist, auf sich allein gestellt, wurde von einer Gruppe verstoßen oder ging der Gruppe durch Unglück verloren. Klassische Einsame sind Exilanten und Geflüchtete, Waisen und Verwitwete, Kranke und Häftlinge. Sie tragen noch nicht oder nicht mehr zum Erhalt einer Gruppe bei. Ihre Gesellschaft wird selten gesucht, und sie selber empfinden sich am Rand der Gesamtgesellschaft.
Welche Emotionen gehören zur Einsamkeit?
Emotionen zweier Akteure arbeiten mit am Herstellen von Einsamkeit. Auf der einen Seite die latente oder offene Botschaft eines Gruppenegoismus, einer Entsolidarisierung: Du fällst uns zur Last, dein Name fällt nicht mehr, dein Dasein zählt nur wenig. Als Echo auf diese Botschaft entsteht auf der anderen Seite, was Einsamkeit ausmachen kann, etwa Depressivität, chronische Traurigkeit, Energieverlust, Orientierungsarmut, Übellaunigkeit, Aggressivität oder Resignation.
All das kann die Abwehr der Anderen noch verstärken, was wiederum die Affekte der Isolierten intensiviert: Eine emotionale Spirale kann sich weiter und weiter schrauben. Religiöse Texte verraten, wie alt die Kenntnis einsamer Verzweiflung derer ist, die keiner mehr ruft, etwa wo der Gott des Propheten Jesaja im Alten Testament tröstend verspricht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
Ist Einsamkeit zur Jahreswende besonders gravierend?
Zwischen Weihnachten und Silvester hat der öffentliche Raum quasi die Rollläden heruntergelassen. Geschlossen bleiben Läden, Lokale, Frisöre, Büros, Werkhallen und Praxen, all die Orte, an denen der Alltag sonst bevölkert ist. Hinzu kommen der graue Winterhimmel, die Dunkelheit der kurzen Tage, der Stillstand des Konsumkarussells. Das große Innehalten wirft viele auf sich selber zurück.
In manchen Großstädten lebt in der Hälfte aller Wohnungen nur eine Person, 41 Prozent Einpersonenhaushalte gibt es in Deutschland insgesamt. Vor allem alleinstehenden Männern fällt ohne die Geselligkeit am Arbeitsplatz die Decke auf den Kopf, bei der Telefonseelsorge rufen in den Feiertagen 25 Prozent mehr Männer an als sonst. Und Anfang des Jahres haben die Notaufnahmen der psychiatrischen Kliniken Hochbetrieb.
Zur Depression trägt der über das Land schallende Ruf nach der frohen Weihnachtszeit bei, der unablässige Freuet-Euch-Appell. Geselliges, heiter besinnliches Beisammensein im privaten Raum soll ja jetzt dem Stillstand im öffentlichen Raum entgegengesetzt werden. Was, wenn der private Raum ebenfalls stillsteht? Man ist geschieden, verwitwet, verlassen worden, die erwachsenen Kinder gehen ihrer Wege, die Freunde sind verreist und das haltgebende Büroambiente fehlt. Dann kann die Strecke zwischen den Jahre eine seelische Obdachlosigkeit bewusst machen, die der Alltag sonst abfedert.
Weshalb gibt es auch Einsamkeit in Gemeinsamkeit?
Selbst wo alle Zutaten für frohe Feiertage da sind, sind Menschen oft einsam, auch in Familien, wo die Kerzen leuchten und die Tafel mit Silber gedeckt ist. Sind alle beisammen, zwei oder drei Generationen, brodeln nicht selten Familienkonflikte oder eskalieren sogar. Da sehen sich etwa Söhne oder Töchter in alte Rivalitäten gedrängt („mein Auto ist toller als deine alte Karre“) oder in ihre Rollen als „schwarzes Schaf“ oder „Nestbeschmutzer“, als Sündenböcke, die ungelöste Spannungen der Kleingruppe repräsentieren sollen, um die Anderen zu entlasten. Den so Isolierten bleiben kaum Chancen, der Dynamik zu entkommen.
Gegen Jahresende summen aus allen Kanälen Empfehlungen zum Meiden von „Stress“ mit den Nächsten. Dass „verreisen und Sonne tanken“ dazugehört, offenbart das Dilemma. Wie sollte ausgerechnet unter maximalem Harmoniegebot gelingen, was klare Aussprachen und Konfliktfähigkeit bräuchte? Das Fernsehmärchen „Der kleine Lord“, jede Weihnachtszeit im Programm, ist so beliebt und berührend, weil es erzählt, wie ein Familienkonflikt gelöst wird, der viele vereinsamen ließ. Aber der kleine Lord Cedric hat von seiner Mutter Vertrauen, Takt und Aufrichtigkeit gelernt und erweicht damit das verhärtete Herz des gichtkranken Großvaters, der im Enkel anfangs nur das Kettenglied einer Dynastie sah. Übersehen wird gern, dass hier auf einem Kind der Auftrag lastet, Fehden Erwachsener zu befrieden. In der Realität sind diese dafür verantwortlich, sich und andere, vor allem Kinder, aus der Einsamkeit zu befreien.
Wie lauten 2017 die Botschaften der Kirchen gegen Einsamkeit?
Weihnachten ist vorüber, Papst und Pastoren haben gesprochen auch über die Einsamen, die an den Rand Gedrängten. Papst Franziskus rief dazu auf, Flüchtling nicht zu isolieren: „Wir erblicken Jesus in den vielen Kindern, die gezwungen sind, ihre Länder zu verlassen.“ Kardinal Rainer Maria Woelki erinnerte an die Obdachlosen: „Jeder Mensch braucht Wohnung, die ihm Heimat ist.“ Mächtiger repräsentiert nichts das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, als ohne Wohnung zu sein.
Weihnachtsfreude setzte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, gegen das Ausgrenzen anderer, als „stärkste Medizin gegen den Virus des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und des religiösen Fanatismus“. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, pries den Einsatz gegen Antisemitismus. Feindseliges Ausgrenzen produziert immer Einsamkeit, immer Angst – es ist das Antisoziale schlechthin. Oft sind es gerade die Randständigen, Alleingelassenen aus der Mehrheitsgesellschaft, von denen ihrerseits Ausgrenzungsimpulse ausgehen – was das destruktive Potenzial von Einsamkeit doppelt deutlicher macht.
Was tun gegen Einsamsein, wie handeln, wie reagieren?
Erwachsene Demokraten sollten die politische Wachheit und emotionale Reife entwickeln, Ausgrenzungsprozessen, die sich gegen Gruppen oder Individuen richten, aktiv entgegenzutreten. Entspringt Einsamkeit der privaten Situation, der Lebenslage, müssen die davon Betroffenen sich, soweit sie können, selber regen. Oft tröstet festgeplagte Einsame der Gedanke: Auch das geht vorbei. Auch dieses alte Jahr krempelt sich um ins neue. Das Tageslicht nimmt zu, der Alltag kehrt wieder. Erscheint eine Phase der Einsamkeit überwältigend, sollte man sich, soviel raten alle guten Fachleute, nie scheuen, Hilfe zu suchen, um aus dem selbstverstärkenden Verlauf von Isolation auszubrechen. (Einige Adressen finden sich unten im Kasten.)
Einsam sind Menschen, die mit Traumata leben, ohne sich mitteilen oder verständlich machen zu können. Einsam sind auch solche, die ihr Gewissen plagt, weil sie Freunde, Verwandte, Kollegen übervorteilt, vernachlässigt oder belogen haben. Denn einsam ist jeder, der mit unausgesprochenem Alpdruck lebt.
Gibt es auch gute Varianten von Alleinsein?
Moderne Individuen sind weitaus weniger als früher durch Gebote und Tabus an Kollektive gekettet. Das Ablösen aus solchen Fixierungen erweitert den inneren Raum, den ein Mensch bewohnt, und vertieft die Eigenverantwortung. Mit ihr ist man zweifellos allein, wenn auch in Kommunikation, in Beziehung mit anderen. Aus der Freiheit heraus können Individuen selbst und bewusst Situationen des Alleinseins wählen, etwa um zu forschen, nachzudenken, zu schreiben, zu lesen, Stadt, Sternenhimmel oder Berge zu erkunden.
Solche Phasen der Ungestörtheit können reiner Genuss sein, ein Privileg. Nicht umsonst nannte ein barocker Fürst eines seiner Schlösser „Solitude“ – er wollte für sich sein. Wer Alleinsein sucht und wählt, will mit sich eins, all-eins sein, würde sich aber kaum als einsam bezeichnen. Hauptsache, man kennt seinen Weg, anders als der einsame Geisterfahrer, der im Radio die „Warnung vor einem Geisterfahrer“ hört und ausruft: „Was, einer? Hunderte sind das!“
Für Einsame: Hier gibt es Hilfe
Telefonseelsorge: Bundesweit, 24 Stunden, kostenlos (oft besetzt, öfter versuchen): Telefon 0800-1110111
Silbernetz-Hilfstelefon für Senioren: Vom 24. Dezember bis zum 1. Januar: Telefon 0800-470 80 90 (gratis) - 20 professionell geschulte Freiwillige sind rund um die Uhr erreichbar.
Berliner Krisendienst: 24 Stunden rund um die Uhr: Telefonnummern für jeden Stadtteil.
https://www.berliner-krisendienst.de/ich-brauche-hilfe/
Mitte/Friedrichshain/Kreuzberg: Telefon 030-390 63-10
Berliner Notdienst Kinderschutz: Wenn Kinder alleingelassen werden - vertrauliche Beratung und auch anonyme Meldungen sind 24 Stunden rund um die Uhr möglich unter Telefon 030-610066