Fünfter Jahrestag der Gezi-Unruhen: Warum Erdogan das Volk fürchtet
Am 27. Mai 2013 begannen die Gezi-Demonstrationen. Kurze Zeit später schlug die türkische Staatsmacht die Proteste nieder. Doch nun schöpft die Opposition Hoffnung.
Im Gezi-Park küsst sich ein Pärchen unter Bäumen. Im Parkcafé trinken ältere Damen ihren Nachmittagstee, auf dem Spielplatz wippen, schaukeln und juchzen kleine Kinder, während ihre Mütter im Halbschatten plaudern und alte Männer mit ihren Zeitungen rascheln.
Alle paar Minuten wird die friedliche Ruhe von einem lauten Knattern übertönt: Ein Polizeihubschrauber kreist über dem Park. Das geschieht so regelmäßig, dass keiner mehr zu ihm hinauf blickt.
Auch fünf Jahre nach der Niederschlagung der Gezi-Unruhen beobachten die Istanbuler Behörden das Gelände genau. Zwischen den Bäumen am Rande des Taksim-Platzes in der Istanbuler Innenstadt begann am Abend des 27. Mai 2013 eine Aktion von Umweltschützern, die eine Welle von landesweiten Protesten und Demonstrationen gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan lostrat.
Brennende Zelte
Das ursprüngliche Anliegen der Menschen hatte nichts mit großer Politik zu tun. Sie schlugen ihre Zelte im Park auf, um die dortigen Bäume zu retten, die einem Einkaufszentrum weichen sollten. Die Staatsgewalt reagierte rabiat – Sicherheitskräfte brannten die Zelte nieder.
Das gewaltsame Vorgehen gegen die Baumschützer war der Beginn eines Sturms der Entrüstung. Zu dem lokalen Anliegen gesellte sich eine ganze Reihe von allgemein-politischen Beschwerden gegen die Erdogan-Regierung. Darunter war die Klage, die Regierung versuche, dem Land eine islamisch-konservative Lebensweise mit Alkohol- und Flirtverboten aufzuzwingen. Plötzlich wurde nicht nur am Gezi-Park demonstriert, sondern überall in der Türkei.
Überrascht von der Wut und der großen Zahl der Demonstranten, die sich in den letzten Maitagen im Park versammelten, zog sich die Polizei zurück und überließ den Park den Erdogan-Gegnern. Eine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft aus Kommunisten, Umweltschützern, Säkularen und Fußballfans machte es sich dort gemütlich.
Die Türken erlebten ihren ganz eigenen 68er Moment: Die Hoffnung auf mehr Demokratie und mehr Mitsprache trieb mehrere Millionen Menschen vom Bosporus bis zum Ararat auf die Straße.
Erdogan glaubt an Verschwörung
Doch der Traum währte nicht lange. Als Gespräche der Besetzer mit Erdogan scheiterten, ließ die Regierung den Gezi-Park am 15. Juni von der Polizei stürmen und die Protestbewegung zerschlagen. Bei Zusammenstößen zwischen Beamten und Demonstranten in mehreren Landesteilen kamen elf Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Erdogan betrachtet den damaligen Aufstand als eine Verschwörung des Westens, um ihn aus dem Amt zu jagen.
In den fünf Jahren seither war von der „Gezi-Generation“ der zumeist jungen Demonstranten kaum etwas zu sehen und zu spüren. Unmittelbar nach ihrer Vertreibung trafen sich die Protestierenden noch eine Weile regelmäßig in anderen Istanbuler Parks.
Eine Art Friedhofsruhe
Eine politische Bewegung oder eine Partei entstand allerdings nicht. Der Schwung der Proteste erlahmte und wich einer Art Friedhofsruhe. Jetzt allerdings schöpfen viele Erdogan-Gegner vor den Wahlen am 24. Juni neue Hoffnung.
Zum ersten Mal seit dem Regierungsantritt von Erdogans Partei AKP im Jahr 2002 kann die Opposition auf einen Sieg bei der Parlamentswahl und vielleicht sogar bei der Präsidentenwahl hoffen. Zum ersten Mal erscheint eine Niederlage Erdogans möglich.
Als die Kurdenpartei HDP, die als Sammelbecken linksliberaler Protestwähler in den großen Städten fungiert, kürzlich ihren Wahlkampfauftakt feierte, tat sie das im Abbasaga-Park, wo sich in den vergangenen Jahren mehrfach die versprengten Truppen der Gezi-Bewegung versammelt hatten.
Verliert die Regierungspartei ihre Mehrheit?
Manchen Umfragen zufolge könnten Erdogans AKP und ihr nationalistischer Partner MHP am 24. Juni die Mehrheit im Parlament verlieren und Erdogan selbst bei der ersten Runde der Präsidentenwahl unter der Marke von 50 Prozent bleiben.
Denn fünf Jahre nach den Gezi-Demonstrationen formiert sich erneut eine Massenbewegung gegen den machtgewohnten Staatschef, nur diesmal an der Wahlurne statt auf der Straße. Als Erdogan kürzlich in einer Rede sagte, er werde sich zurückziehen, wenn das Volk genug von ihm habe, wurde „Tamam“ – das türkische Wort für „genug“ – zur Parole einer Opposition, die so selbstbewusst auftritt wie seit Langem nicht mehr.
Nach wie vor fürchten die Behörden den Einfluss der Gezi-Bewegung, wie nicht nur der ständige Hubschrauber-Einsatz über dem Park zeigt. Erst vor ein paar Tagen verbot die Leitung der Technischen Universität Istanbul den Auftritt der Architektin Mücella Yapici bei einer Veranstaltung an der Hochschule. Sie war eine der Anführerinnen der Gezi-Bewegung.
Zeichen des Sieges
Immerhin gibt es den Gezi-Park noch, obwohl Erdogan mehrmals angekündigt hat, er werde seinen Plan trotz aller Proteste umsetzen. Der Präsident will eine ehemalige osmanische Kaserne auf dem Parkgelände neu aufbauen lassen und damit ein Zeichen seines Sieges über seine Gegner setzen.
Nicht, dass es an triumphalen Denkmälern in der Stadt mangeln würde: Auf einem Hügel auf der asiatischen Seite des Bosporus hat der Präsident eine riesige Moschee mit sechs Minaretten bauen lassen.
Auch neben dem kleinen Grünflecken des Parks ziehen Bauarbeiter seit einiger Zeit einen gewaltigen neuen Betonkoloss in die Höhe. Der Rohbau einer Moschee, die am Taksim-Platz gebaut wird, dominiert schon lange vor der Fertigstellung des neuen Gotteshauses die Umgebung.
Auf der anderen Seite des Platzes wird das Atatürk-Kulturzentrum abgerissen, das die Demonstranten während der Gezi-Kundgebungen mit regierungsfeindlichen Plakaten behängt hatten. Erdogan will an der Stelle ein neues Opernhaus errichten lassen. Die Schlacht um den Gezi-Park ist fünf Jahre nach den Protesten noch nicht zu Ende.