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Im Zeichen des Regenbogens. Der Istanbul-Pride-Marsch von 2013 war mit 100 000 Teilnehmern die bislang größte queere Demonstration der Türkei.
© Gülşin Ketenci

Ausstellung zu Protesten in der Türkei: Was von Gezi blieb

Kaum eine Bewegung war künstlerisch so vielfältig wie die türkischen Gezi-Proteste von 2013. Eine Ausstellung im Berliner NGBK fragt jetzt, was davon geblieben ist.

An den Widerstand dachte Hüseyin Çetinel nicht, als er drei Freunde anrief mit 1500 Lira und einem Plan: Die Treppe vor seinem Haus, die von Cihangir nach Fındıklı führt, sollte endlich nicht mehr so hässlich grau sein. Er wollte „ein Lächeln auf die Gesichter der Leute“ zaubern, sagt er. Also malten der Rentner und seine Kollegen die Treppe bunt an, in den Farben des Regenbogens.

Schon während der Malarbeiten an den 145 Stufen gesellten sich immer mehr Nachbarn dazu, die Treppe wurde zu einem Ort der Zusammenkunft. Eine Woche Zeit und ein paar Farbstriche: mehr war dafür nicht nötig. Zwei Tage nachdem die Nachbarschaftsverschönerer die Arbeit an der Treppe beendet hatten, kamen städtische Angestellte und übermalten die Treppe mit grauer Farbe. Es gibt wenige Möglichkeiten, sich als Stadtverwaltung schneller und nachhaltiger unbeliebt zu machen, als ein buntes Nachbarschaftsprojekt in einer Nacht- und Nebelaktion grau zu übermalen. Wieso bloß?

Der Grund war der Zeitpunkt. Hüseyin Çetinel bemalte die Treppe im August 2013, nur zwei Monate vorher waren die heißesten Tage der Gezi-Proteste auf dem Taksim-Platz, keine zehn Minuten Fußweg von der Treppe. Die Istanbuler Stadtverwaltung reagierte auf Çetinels Treppe reflexhaft, sah in ihr eine Weiterführung der Proteste. Die Regenbogenfarben ließen den Bezirksbürgermeister von Beyoğlu eine Verbindung zu Queer-Aktivisten vermuten – dem konservativen Politiker ein Dorn im Auge.

An der Regenbogentreppe in Cihangir störte sich die Stadtverwaltung - und übermalte sie grau. Daraufhin malten Hunderte in vielen türkischen Städten Treppen aus Solidarität bunt an. In dieser Illustration bemalt Cem Dinlenmiş die Treppe des Präsidentenpalastes.
An der Regenbogentreppe in Cihangir störte sich die Stadtverwaltung - und übermalte sie grau. Daraufhin malten Hunderte in vielen türkischen Städten Treppen aus Solidarität bunt an. In dieser Illustration bemalt Cem Dinlenmiş die Treppe des Präsidentenpalastes.
© Cem Dinlenmiş

Wände wurden zu Medien

Im Frühjahr und Sommer 2013 füllten sich die Wände Istanbuls mit Bemalungen, Schriftzügen, Graffiti und Gedichten. Wände wurden zum Verlautbarungsmedium und zum Austragungsort des Unmuts junger Türken, die genug hatten von der konservativ-religiösen Politik des damaligen Premiers und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Genug vom paternalistischen Staat, der autoritären Führung, der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Als würde sie die Ironie darin nicht verstehen, übermalte die Stadtverwaltung konsequent Kunst im öffentlichen Raum. Zurück blieben graue Rechtecke. Die Ästhetik der Gezi-Proteste hat sich aber in das Gedächtnis der Stadt gebrannt. Die Politik erkannte die Macht der Bilder im Protest. Jeder Versuch, in der Öffentlichkeit Kunst zu präsentieren, wurde von nun an unterbunden.

Die Gezi-Proteste hinterließen ein ästhetisch so reiches Erbe, wie es in der jüngeren Protestgeschichte ohnegleichen ist. Die Ausstellung „Politische Kunst im Widerstand in der Türkei“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin zeigt das eindrucksvoll. Zentral im Ausstellungsraum in der Oranienstraße stehen zwei Bildschirme: einer mit Zahlen von Protestierenden und Verletzten, und mit Karten, die die Verbreitung der Bewegung zeigen. Und einer, auf dem ein Video des Künstlers Sencer Vardamas zu sehen ist. Vardamas hat Bilder aus sozialen Netzwerken gesammelt, er zeigt die viralen Phänomene, die in der Türkei zu der Zeit entstanden sind.

Zum Beispiel die CNN-Pinguine, die zum Symbol wurden, weil trotz Toten und Verletzten bei den Protesten auf CNN Türk eine Pinguindokumentation ausgestrahlt wurde. Oder die surreal anmutenden Fotos einer Hochzeitsfeier im Gezi-Park, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. Eine der viralen Figuren des Widerstands war „Duran Adam“, der stehende Mann.

Şener Özmens Foto "Flag" von 2010 kommentiert türkischen Nationalismus
Şener Özmens Foto "Flag" von 2010 kommentiert türkischen Nationalismus
© Şener Özmen

Starren als Protestform

Der Künstler Erdem Gündüz stellte sich am 18. Juni acht Stunden lang auf den Taksim-Platz und betrachtete das Porträt des Staatsgründers Atatürk. Schon wenige Stunden später machten es ihm Hunderte in verschiedenen Städten gleich, über den Hashtag #duranadam wurde der stehende Mann binnen Stunden weltweit bekannt. In den folgenden Tagen standen Menschen in vielen türkischen Städten protestierend still. Viele wurden festgenommen, wie auch Gündüz selbst. Es konnte ihnen aber nichts vorgeworfen werden.

Die „Lady in Red“ aber ist mittlerweile die wohl bekannteste Figur. Eine Frau im eleganten roten Sommerkleid wird am 28. Mai 2013 von einem Polizisten in Gasmaske mit Tränengas besprüht. Das Foto des Angriffs geht um die Welt und wird zum Symbol für die Brutalität der türkischen Polizei. Sencer Vardamas zeigt in seinem Video die Solidaritätsbekundungen, die von überall kamen. Auf Twitter verbreitet sich ein Foto von italienischen Abgeordneten, die sich als Reaktion auf das Foto in Rot kleiden, viele Zeitungen weltweit titeln mit dem Bild, ein Künstler baut Lego-Figuren der Szene nach. Der Einfluss des Phänomens Lady in Red bestätigte sich vor drei Wochen: Der Tränengas sprühende Polizist wurde zu 20 Monaten Haft verurteilt.

Die Ästhetik des Widerstands in der Türkei speist sich aus verschiedenen Kanälen. Eine Inspiration war die Occupy-Bewegung oder die Indignados in Spanien. Die Gezi-Protestierenden sorgten innerhalb der Protestcamps für Vergemeinschaftung. Es gab Küchen, Bibliotheken, Erste Hilfe – alles kostenlos. Die Wucht wäre nicht ohne die Sozialen Medien denkbar gewesen. Über das Internet verbreiteten sich die Symbole überall. Kunst und Widerstand bestärkten sich gegenseitig. Profitiert hat die Bewegung auch von der türkischen Tradition der Comics und der Satire sowie der Fankultur im türkischen Fußball.

Ein Foto einer Gezi-Barrikade des Künstlers Aytunç Akad
Ein Foto einer Gezi-Barrikade des Künstlers Aytunç Akad
© Aytunç Akad

Istanbul ist ein Kreativzentrum

Die Ausstellung entwirft damit ein erfrischend anderes Bild der Türkei – abseits von Religion und Migration. Sie zeigt die Türkei, vor allem Istanbul, als Ort des gesellschaftlichen Kampfes, des kreativen Potenzials. Analogien zu anderen türkischen Protestbewegungen werden in der Ausstellung gefunden: Nach dem Massaker auf dem Taksim-Platz 1977 etwa, deren Protestplakate in der NGBK ausgestellt sind oder rund um den Militärputsch 1980. Auch aktuelle Proteste werden behandelt, wie der Weltfrauenmarsch, eine Demonstration gegen Gewalt an Frauen, der ebenfalls eine sich weltweit ähnelnde Ästhetik hervorgebracht hat. Oder die Istanbul Pride Parade, der sich 2013 auch die Gezi-Protestierenden anschlossen.und deren Regenbogenflagge überall als queeres Symbol verstanden wird.

Manchmal eben auch fälschlicherweise, wie bei Hüseyin Çetinels Nachbarschaftsaktion. Als Reaktion auf die graue Farbattacke der Stadt haben hunderte Bürger in vielen türkischen Städten Treppen bunt angemalt. Die staatliche Attacke auf eine unpolitische Aktion begründete eine politische. Auch im Fındıklı-Park blickt man wieder auf eine farbenfrohe Treppe. Der Bürgermeister des Stadtteils kommentierte das – völlig ironiefrei – so: „Das hat die Regierung veranlasst, weil die Bürger sich mehr Farbe im Viertel wünschen.“

Die türkische Comictradition hat die Ästhetik der Gezi-Proteste stark beeinflusst. Der Künstler Cem Dinlenmiş kommentiert das Soma-Minenunglück.
Die türkische Comictradition hat die Ästhetik der Gezi-Proteste stark beeinflusst. Der Künstler Cem Dinlenmiş kommentiert das Soma-Minenunglück.
© Cem Dinlenmiş

Die Ausstellung „Politische Kunst im Widerstand in der Türkei“ läuft bis zum 30. August in der NGBK, Oranienstraße 25. Täglich von 12 bis 19 Uhr. Mehr Informationen: www.ngbk.de

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