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Christian Drosten kritisiert eine Anfrage der "Bild", da sie eine "tendenziöse" Berichterstattung plane.
© Michael Kappeler/dpa
Update

Charité-Virologe gegen Boulevard-Blatt: Warum Drosten die „Bild“-Zeitung so scharf angeht

Die „Bild“ bezeichnet eine Drosten-Studie über ansteckende Kinder als „grob falsch“. Der Virologe reagiert per Twitter – und erhält abermals Morddrohungen.

Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, ist seit Beginn der Corona-Pandemie ein einflussreicher Berater im Bezug auf die Bekämpfung des Coronavirus - und hat sich in diesem Zusammenhang gelegentlich auch kritisch über die Berichterstattung der Presse geäußert

Im jüngsten Fall ärgert sich Drosten über eine Anfrage der "Bild"-Zeitung, die ein Redakteur der Zeitung Drosten am Montag stellte. Auf Twitter postete der Virologe einen Screenshot der Mail-Anfrage und kommentierte diese.

Heikel: Der Screenshot enthielt auch die persönlichen Daten des Redakteurs. Deshalb löschte Drosten seinen Tweet kurze Zeit später, um die persönlichen Daten des Redakteurs zu entfernen. Er veröffentlichte dann seinen Ursprungstweet nochmal, diesmal ohne die persönlichen Daten.

In dem ursprünglichen Beitrag schrieb Drosten: "Interessant: die Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang." Und weiter: "Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun." Problematisch und unüblich an der Anfrage ist, dass sie Drosten nur eine Stunde Reaktionszeit einräumt.

In der Anfrage schreibt der Redakteur, man wolle über die Kritik mehrerer Wissenschaftler an einer Studie des Instituts für Virologie an der Charité berichten, in der untersucht wurde, ob Kinder so ansteckend seien wie Erwachsene. Drosten hatte unter Bezug auf die Studie behauptet, es gebe keinen signifikanten Unterschied bei der Viruslast von Kindern und Erwachsenen.

Im Abstract der Studie hieß es: "Basierend auf diesen Resultaten haben wir Vorbehalte gegen die unbegrenzte Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten in der derzeitigen Situation. Kinder könnten genauso ansteckend sein, wie Erwachsene."

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In der Anfrage an Drosten werden mehrere Zitate von Forschern aufgelistet, zu denen Drosten dann Stellung beziehen soll - "Zitatfetzen", wie Drosten in seinem Tweet schreibt. Bei den Zitaten handelt es sich zum Teil um Reaktionen, die die Wissenschaftler auf Twitter teilten. Im Anschluss stellt der Redakteur Fragen, die sich auf die Aussagekraft der Studie und die Kritik an der Studie beziehen.

"Bild" veröffentlicht kritischen Artikel über Drosten

Kurze Zeit nachdem Drosten die "Bild"-Zeitung auf Twitter öffentlich anging, veröffentlichte das Blatt am Montagnachmittag einen Artikel mit der Überschrift "Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch" und fragt: "Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?"

In dem Artikel wurde dabei eine nicht unwichtige Aussage der Studie verändert - aus einem Konjunktiv wurde kurzerhand ein Indikativ gemacht. "Das Ergebnis der Drosten-Studie schien eindeutig: „Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene“, heißt es in dem "Bild"-Artikel. Im Original hieß es jedoch "may be as infectious", also "könnten".

"Bild" sammelt in dem Artikel Stimmen verschiedener Wissenschaftler, die das Ergebnis der Studie scharf kritisieren sollen. Am Ende des Artikels wird erwähnt, dass "Bild" Drosten konfrontiert habe, dieser aber auf Anfrage nicht antworten wollte. 

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Weiter heißt es in dem "Bild"-Artikel: "Brisant: Nach BILD-Informationen findet die Kritik auch Zustimmung in Drostens Forscherteam. Intern wurden die Fehler bereits eingestanden." Der Berliner Virologe nahm hierzu am Montagabend auf Twitter Stellung.

Der "Bild"-Reporter habe einen "englischsprachigen Mathematiker" des Forscherteams "am Telefon in die Irre geführt". "Er bekam die Auskunft, dass wir grade an einem Update der Studie arbeiten, das aber das Ergebnis nicht ändert", schrieb Drosten. Daraus werde "eine interne Kritik" gemacht. 

Drosten erhält nach Berichterstattung Morddrohung

Am Tag nach der Artikelveröffentlichung erhielt der Chef-Virologe eine Morddrohung, wie er auf Twitter mitteilte. "Das selbe Paket habe ich heute auch bekommen", schrieb Drosten zu einem Beitrag von SPD-Politiker Karl Lauterbach. Lauterbach hatte am Dienstagnachmittag ein Foto von einem Paket veröffentlicht, das an ihn versendet wurde. Auf dem Foto sind eine Flüssigkeit und ein Zettel mit der Aufschrift "trink das - dann wirst du immun" zu sehen.

Der Politiker warnte vor Hetze im Netz gegen Virologen, Epidemiologen oder Politiker. Diese animiere Leute, die "unberechenbar" seien. Unter den Beiträgen von Drosten und Lauterbach teilten Nutzer und Nutzerinnen ihre Solidarität und Beistand mit.

"Danke für Ihre Arbeit. Es ist unerträglich, dass Sie dafür solchen Angriffen ausgesetzt sind. Volle Solidarität", kommentierte etwa eine Nutzerin den Tweet des Virologen.

Drosten äußert sich zu den "Bild"-Vorwürfen im Podcast

Am Dienstag äußerte sich Drosten zudem im NDR-Podcast zu den Vorwürfen der "Bild". Er räumt im Podcast ein, dass die statistische Methode "völlig zu Recht" kritisiert werden könne. Man habe Viruslasten unterschiedlicher Altersgruppen ausgewertet - und dafür relativ grobe statistische Methoden verwendet.

Dies sei auch mit Absicht so gewesen, weil man schauen wollte, ob das Ergebnis weitere Untersuchungen rechtfertige. "Wenn man da mit einer groben statistischen Methode nichts findet, dann lohnt es sich sicherlich auch nicht, da weiter zu graben mit feineren Methoden." 

Andere Forscher hätten die Ergebnisse der Studie mit feineren Methoden nachgerechnet und "hier und da einen Hinweis für Unterschiede in den Viruskonzentrationen gefunden", erklärt Drosten. Das stimme auch, "aber das hat für die medizinische Interpretation und die Deutung dieser Daten überhaupt keine Konsequenz."

Und weiter: "Es gibt auch bei Kindern sehr hohe Viruslasten, und das ist einfach das, was wir sagen wollen."

Es sei aber nicht so, dass man auf Verbesserungsvorschläge anderer Wissenschaftler gar nicht reagiere. Das sei Teil einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.

Man habe die substantiellste Kritik gesammelt und eine Antwort verfasst. Einer der Forscher, der statistische Verbesserungsvorschläge geschickt hatte, sei sogar nun im Team. "Wir sind jetzt dabei, mit unserem Team und ihm zusammen an einem Update der Studie zu arbeiten, bevor wir sie formal zur Publikation einreichen." Man werde außerdem eine Studie bei einem wissenschaftlichen Journal einreichen. "Das ist ein normaler wissenschaftlicher Prozess, den vielleicht bestimmte Medien so nicht verstehen."

Wissenschaftler melden sich zu Wort - und distanzieren sich

Inzwischen haben sich einige der von "Bild" im Artikel erwähnten Experten via Twitter von dem Artikel distanziert. "Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen aufs schärfste", twitterte der im "Bild"-Artikel zitierte Bonner Statistik-Professor Dominik Liebl. "Wir können uns glücklich schätzen Christian Drosten und sein Team im Wissenschaftsstandort Deutschland zu haben. They saved lifes!"

Weiter schrieb Liebl, sein "Open Review Report" begutachte die Statistik. Dort seien "Fehler" passiert. "Dies kann passieren. Passiert jedem Wissenschaftler einmal", schrieb Liebl. Nun müsste man die Ergebnisse neu interpretieren.

Auch der Mannheimer Statistik-Professor Christoph Rothe, der von der "Bild" zitiert wird, distanzierte sich von dem Artikel. "Niemand von der Bild hat mit mir gesprochen, ich distanziere mich ausdrücklich von dieser Art der Berichterstattung", schrieb Rothe auf Twitter.

In einem Interview mit dem "Spiegel" bezog auch der deutsche Ökonom Jörg Stoye Stellung. Es sei "überhaupt nicht" seine Intention gewesen, dass die Studie durch seine Kritik als "grob fahrlässig" eingestuft werde. Die von der "Bild" verwendeten Zitate seien in einen falschen Zusammenhang gebracht worden. Er glaube jedoch, anders als die Studie, dass es ein Muster sei, dass Kinder weniger Viren in sich tragen als Erwachsene.

Am Montagabend meldete sich "Bild"-Redakteur und Verfasser der Anfrage Filipp Piatov ebenfalls zu Wort. Es sei ihr "gutes Recht", dass sich nun die "angeblichen Kritiker" der Studie von der "Bild" distanzieren. "Aber sie bleiben bei ihrer Kritik an der Studie. Diese öffentlich geäußerte Kritik haben wir zitiert", teilte Piatov über seinen Twitter-Account mit.

Debatte um Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten wird intensiver

Kritik an der Studie Drostens ist nicht neu. Bereits Anfang Mai haben Kinderärztinnen und -ärzte der LMU München in einem Artikel mit der Überschrift "Kinder haben das Recht auf Bildung" die Effektivität und Legitimität von Schulschließungen angezweifelt - und dabei auch Drostens Studie kritisiert. Der Rückschluss dass aus gleicher Viruslast bei Kindern und Erwachsenen auch eine vergleichbare Ansteckungsgefahr folge, sei unzulässig. 

Die Debatte um die Schließungen von Kindergärten und Schulen wurde in den vergangenen Tagen intensiver, Experten forderten zuletzt eine komplette Öffnung der Kinder-Einrichtungen.

Die Reaktionen auf Drostens Tweet sind positiv

Die Reaktionen auf den Tweet Drostens fielen größtenteils positiv aus und wurden sehr schnell vielfach geteilt. Juso-Chef Kevin Kühnert veröffentlichte auf Twitter eine Anfrage aus dem Jahr 2018 desselben Redakteurs, in dem dieser um die schriftliche Beantwortung mehrerer Fragen bat und versah diese mit einem ironischen Kommentar.

"Der Journalismus ist aber auch wirklich schnelllebig geworden. Vor zwei Jahren hatte man noch mehr als drei Stunden Zeit zur Beantwortung", schrieb Kühnert in einem Tweet mit Bezug auf die Zeit, die ihm zur Beantwortung der Fragen eingeräumt wurde. 

Die Anfrage bezieht sich auf eine Titelgeschichte der "Bild" aus dem Jahr 2018. "Neue Schmutz-Kampagne bei der SPD" titelte die "Bild" damals. Der Zeitung zufolge sollte Kühnert für die damalige Kampagne gegen die große Koalition Hilfe von einem "Juri" aus St. Petersburg bekommen habe. Der angebliche Mailverkehr stellte sich als Fälschung heraus, die damalige Anfrage an Kühnert bezieht sich auf diesen Mailverkehr. "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt verteidigte damals das Vorgehen seiner Zeitung.

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Auch von SPD-Politiker und Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach gab es Zuspruch für Drosten. Die Methodik der Studie sei "einwandfrei" und decke sich mit dem, was epidemiologisch in Wuhan gezeigt wurde. "Kritik muss erlaubt sein, aber Kollegenneid gibt es auch...", schrieb Lauterbach.

Grünen-Politikerin Renate Künast zeigte sich ebenfalls erfreut über Drostens Kommentar - und twitterte einen nach oben gereckten Daumen mit Smiley. Die Autorin und Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün twitterte: "Was Spiegel-Titelgeschichten und Presserat-Rügen jahrelang nicht geschafft haben, erledigt Dr. Drosten mal eben mit einem Tweet. Chapeau!"

Kritisiert wurde von einem Nutzer die kurze Zeit, die Drosten zur Beantwortung der Frage eingeräumt wurde - aber auch die Art der Recherche. "Innerhalb von einer Stunde antworten, die These steht im Vorhinein fest, Recherche scheint ein Fremdwort zu sein". 

Nutzer weisen auf Zeitdruck im Journalismus hin

Kritischer äußerte sich Journalist und Autor Tin Fischer. Drosten und sein Team würden "hervorragende Arbeit" leisten. Aber "der Fehler der bereits weit zirkulierten Studie" sei "nicht unerheblich".

Mehrere Nutzer wiesen weiter daraufhin, dass Drosten die Handynummer und Mailadresse des entsprechenden Redakteurs mit dem Screenshot der Mail veröffentlichte - und machten zudem auf den Zeitdruck im Journalismus aufmerksam.

So schrieb ein Nutzer, bevor Drosten seinen Ausgangstweet löschte: "Ich hege keine Sympathien für Bild und Zeitfrist ist knapp. Aber Zeitdruck ist im Journalismus normal und Anfrage stellt notwendigen Schritt im Rechercheprozess dar, sog. „Konfrontation" des Kritisierten mit der Kritik. Veröffentlichung von Email/Handynummer ist kein guter Stil." 

Auch der stellvertretende "Bild"-Chefredakteur Paul Ronzheimer meldete sich via Twitter zu der veröffentlichen Handynummer zu Wort. Es sei "erschreckend", wie viele "Journalisten, PR-Leute, (Ex)-Politiker hier bei Twitter feiern, dass eine Rechercheanfrage samt persönlicher Handynummer veröffentlicht und tausendfach retweetet wurde". "Wenn es gegen die vermeintlich Richtigen geht, scheint alles erlaubt", schrieb Ronzheimer weiter.

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